Kürzlich gab es im Feuilleton einen hübschen Streit über die Frage, ob der deutschen Literatur das gewisse Etwas fehlen muss, wenn ihre Autoren fast ausschließlich der Bourgeoisie entstammen, also überwiegend Professorenkinder sind, mindestens aber Mittelschicht. Es wurde dann gefragt, was eigentlich „relevante“ Literatur meint, oder ob es gut sein kann, wenn anscheinend die gesamte Literaten-Incrowd in der Hauptstadt wohnt oder an einem Literaturinstitut studiert. Das alles war interessant. Man durfte sich nur nicht um Kopf und Kragen reden (pauschal, neidisch!) oder wie jemand aussehen, der zuviel Zeit für Meinung hat.
Etwas, das einzigartig ist
Der Schweizer Schriftsteller Eugène scheint sofort verdächtig. Er lehrt seit 2006 amBieler Literaturinstitut kreatives Schreiben und war zwei Jahre lange Präsident des Schweizer Schriftstellerverbands. Sein Habitat adelt ihn dafür als Sonderling; Eugène wohnt fernab des sogenannten Betriebs, in einem kleinen Bergdorf auf 1100 Meter Höhe. Der Schriftsteller kennt aber offenbar das uralte Problem, wie und was man schreiben soll, wenn man im Grunde sehr behütet aufgewachsen ist (und das auch noch in der Schweiz). Sein autobiografisches Ich sagt zu Beginn: „Ich persönlich gehöre zu jener großen Mehrzahl von Menschen, die keinen umgebracht haben, keinen Krieg erlebt haben und ein Auto der unteren Preisklasse fahren (...), dennoch muss es etwas geben, was uns ein wenig einzigartig macht.“
Es geht auch gar nicht, sinniert dieses Ich, dass man sich öde, etwa chronologisch und kapitelweise dem Leben nähert. Da-rum wählt Eugène zehn Dinge, die sehr schön waren in seinem Leben und zehn Dinge, die sehr, sehr schlecht waren, wie der Leichnam seines Vaters. „Die Dinge lügen nicht. Sie verraten unseren Stolz, unsere Schwächen, unsere Träume, unsere Obsessionen und unsere Geheimnisse.“
In Sachen Literaturstreit, einigen wir uns, muss der Schriftsteller halt Form und Stoff wählen, die ihm liegen. Und für manch einen bleibt das eigene Leben trotz oder wegen der Herkunft der einzig denk- und dankbare Stoff. Mit Ein unfassbares Land oder Die zwanzig Dinge meiner Kindheit ist dem Autor, der sich nur Eugène nennt, jedenfalls eine klassische Adoleszenzgeschichte geglückt, von der Sorte, wie man sie immer wieder liebt, gerade wenn der Roman auf knapp 170 Seiten an die juvenil sentimentale Stimmung in Tschick erinnert und Tschick wiederum an Der Fänger im Roggen und so weiter ...
Es gibt die komischen und die anrührenden Szenen und klassisch steuert die Geschichte auf diesen einen Höhepunkt zu: Eugène steht kurz vor dem Abitur, aber was kommt dann? Auf dem Moped lässt er sich durch die Straßen von Lausanne treiben, es gibt eine herrlich blöde Zufallsregel: bei Grün weiterfahren, bei Rot abbiegen. Man selbst sitzt hinten drauf, den Fahrtwind im Gesicht – okay, es nieselt im November bei fünf Grad, kein Sommer, der flirrt. Dennoch – einem selbst hatte ja mal die Welt aufs Pathetischste offengestanden – mit dieser lästigen Einschränkung, dass die Eltern unbedingt wollten, dass man etwas Vernünftiges wird. Apropos: Eugènes Vater ist Informatiker.
Alles, was man nicht braucht!
Der Erzähler hat auch sonst alles, was ein Junge zum Erwachsenwerden nicht wirklich braucht. Er stottert! Er bekommt ein schlimmes Rheuma. Er hat einen Migrationshintergrund. Als er sechs war, wanderte er mit seinem Bruder aus Rumänien aus. Die Eltern waren schon eineinhalb Jahre zuvor vor Ceaușescus Herrschaft geflohen. Lakonisch: Die Brüder begreifen nicht, was vorgeht. Kurz vor der Ausreise wird in der Schule auf die sozialistische Art die ABC-Fibel konfisziert (ein weiteres von zehn Dingen, die schlecht waren). Berührend: Kindheit ist eben immer die ganze Welt samt Geheimnis, wenn einer nichts anderes kennt. Demütigend: Für die erste zünftige Schweizer Wanderung fehlen die Bergschuhe, ein Horrortrip, ein Schuh geht verloren und wegen der Hänseleien der Schulkameraden. Erwachsenwerden: Vielleicht muss jedes Kind ein bis zwei Traumata diesen Schweregrads haben, sonst wird man ja kein Mensch. Erkenntnis: Kinder können ein bedenkliches Kriegspiel spielen und trotzdem nette Menschen werden. Demut und Würde: wie der Junge seine Erkrankung stoisch aufnimmt. Wenn er zu arg mit dem Schicksal hadert, setzt er sich auf sein Moped und landet vielleicht halb erfroren in Genf (weil ja die Ampel auf Grün stand). Das alles ist spannend, denn man hat ja die Listen im Kopf.
Gleich zu Beginn zitiert Eugène Jacques Prévert, der zu den Gästen in den Bistros, die wie er morgens um zwei am Tresen hingen, gesagt haben soll: „Erzähl mir dein Leben, es ist meins.“ Erzähl mir Deine Kindheit, so war auch meine.
Und was bedeutet schon Herkunft? Eugène zeigt uns, dass man auf Umwegen ein interessanter Mensch werden kann und/oder zur Literatur finden. Das Hehre und der Trash sind eben doch oft Nachbarn. Eugène ist zwölf Jahre alt und wartet auf dem Bortsch seiner Mutter. Vom Balkon aus kann er den See sehen, die französischen Alpen und dieses Landhaus da unten. „In dem Haus wohnt ein superberühmter Schriftsteller, dessen Namen ich mir nicht merken kann, Sim ... Simon ... Ich mag sowieso keine Bücher.“ Genauer gesagt: Eugène hasst Bücher – bis das Fernsehen kommt, um den großen George Simenon zu interviewen. Der Junge kann nicht glauben, dass das Fernsehen extra von Paris wegen dieses Typs mit Pfeife und Hut, den er täglich auf dessen Spaziergang sieht, gekommen ist. Die Eltern habe sogar zwei Bücher von Inspektor Maigret im Regal!
„Schlag die Bücher auf und lies die erste Seite“, sagt die Mutter. „Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen“, grübelt Eugène. Aber mit Simenon und dem Fernsehinterview kommt alles anders, der eine Abend auf dem Moped gerät zur Alles-oder-Nichts- Schicksalsfahrt – was der Jugendliche bis jetzt noch nicht wusste: Die altehrwürdige Fakultät für Geisteswissenschaften liegt ganz in seiner Nähe. „Endlich entdecke ich im Mondlicht zwei Gebäude ... ich liebe diesen Namen. Geisteswissenschaftliche Fakultät 2, das klingt wie Rambo 2: Der Auftrag.“
La vallée de la jeunesse erschien erstmals 2007 und wurde 2008 mit dem Hörerpreis des Westschweizer Radios ausgezeichnet. Nun ist Ein Unfassbares Land oder Die zwanzig Dinge meiner Kindheit bei Nagel & Kimche in deutscher Übersetzung erschienen. Der Roman wird seit Jahren in Schulen, Bibliotheken, Theatern der Schweiz und Frankreich als Stück aufgeführt, Eugène spielt die Hauptrolle. Wenn er spielt, stottert er nicht. Traurig: Fast am Ende des Romans durchfährt es einen. Auf der schlechten Liste stand doch noch „der Leichnam meines Vaters“?
Ein unfassbares Land oder Die zwanzig Dinge meiner Kindheit Eugène Tatjana Michaelis (Übers.), Nagel & Kimche 2014, 170 S., 17,90 €
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