In die Gänge gekommen

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Das Gängeviertel jubelt: Denn die Stadt Hamburg hat sich mit dem Investor darauf geeinigt das historische Quartier wieder zurückzukaufen. Nun kann die Kunst in die Gänge kommen. Sowie das Thalia Theater am gleichen Tag.

Geld, Geld, Geld! Ich brauche Geld“, hört man es schon von weitem schreien. Bruno Cathomas (Thalia Theater) spielt in einer Wohnung des Gängeviertels einen geldgiereigen Investor.

Genau darum drehte es sich auch in den vergangenen Monaten bei dem Streit um das Hamburger Gängeviertel: Der niederländische Investor Hanzevast wollte das alte Arbeiterviertel großflächig abreißen und in ein Szene-Quartier umwandeln. Dagegen hatten sich seit Ende August mehr als 200 Künstler gewehrt und die Häuser bespielt.

Nun hat sich aber etwas getan: Der Investor Hanzevast bekommt sein Geld. Satte 2,8 Millionen, mit denen die Stadt Hamburg das Viertel zurückkauft. Im Januar sollen dann Gespräche mit den Künstlern über das städtebauliche Konzept geführt werden. Für die Künstler bedeutet das: Endlich kreatives Leben in die Gänge bringen. Wie durch einen Zufall, war am Abend das Hamburger Thalia Theater vor Ort, um genau das zu tun.

In vier Altbauwohnungen des Gängeviertels ist in jedem Raum ein anderes Schauspiel zu sehen. Das Thalia Theater versucht seit der neuen Spielzeit 2009/10 Stadt und Theater mehr miteinander zu verbinden. Und wenn die Stadt nicht immer zur Bühne kommt, kommt die Bühne eben in die Stadt.

Auf einem alten Sofa am Fenster sitzen zwei Frauen in altmodischen Kleidern, eine mit Hornbrille. Neben ihnen ein kleiner schmächtiger Mann mit einem Schnauzbart. In der Ecke auf einem Sessel sitzt ein anderer Mann, der versucht sich an einer Tasse Glühwein zu wärmen. Sie singen und schmücken den Weihnachtsbaum. Ein klassisches Bild der bürgerlichen Familie. Aus der gegenüberliegenden Wohnung erklingt erneut das „Geld, Geld, Geld! Gib mir den größten Schein aus deiner Geldbörse“, fordert der Schauspieler.

Leicht beängstigt, braucht man sich nur umzudrehen und wird von zwei anderen Männern in seinen Bann gezogen. Beide spielen Gitarre. Dann greift sich einer ein Buch und liest einige Seiten daraus vor. Immer mit Unterstützung der Gitarrenmusik, die der Sprache einen ganz neuen Rhythmus verleiht. Dann greift der andere zum Buch und singt ein Schlaflied.

Die Räume sind voll. Immer mehr Menschen drängen sich durch die Gänge der Wohnungen und versuchen einen guten Blick auf die Performances zu bekommen. Das Publikum ist bunt zusammengewürfelt: es reicht von jungen Studenten über Hausfrauen und Obdachlosen bis hin zu peniblen Anzugträgern. Doch es soll nicht unbeteiligt bleiben: Der eine gibt dem geldgierigen Investor Geld, ein anderer Zuschauer greift ein Buch und singt zur Gitarrenmusik und wieder ein anderer hilft mit den Weihnachtsbaum zu schmücken.

Eine der Wohnungen ist abgedunkelt und wird von einem Mann bewacht. „Eintritt nur mit Augenklappe“, sagt er. Wer sich auf diese Kunstform einlassen will, muss den Künstlern also im wahrsten Sinne des Wortes blind vertrauen können. Gewagt, aber getan.

Nachdem man die Augenklappe aufgezogen hat, wird man an den Händen in die abgedunkelte Wohnung geführt. Dort wird man auf einen Stuhl gesetzt, die Schuhe werden ausgezogen und die Füße in Laub gestellt. Danach geht's von einem Unbekannten zum nächsten. Einer massiert die Hände mit weichen Fellhandschuhen, vom anderen bekommt man eine intensive Umarmung, wieder ein anderer ergreift einen zum Tanz, wobei man auf seinen nackten Oberkörper fasst. Am Ende erhält man einen glibberiges Etwas in die Hand und sieht erst wenn man draußen wieder die Augen aufmacht, dass dieses Etwas eine Mandarine ist. Nach dem kurzen Abtauchen fragt man sich: „Was ist da gerade mit mir passiert?“ Aber eine Antwort hat man nicht. Es fühlt sich nur irgendwie gut an.

Loslassen, Abtauchen und sich von der Kunst entführen lassen – kann Emotionen freisetzen, die unbezahlbar sind. Dafür soll nun im Gängeviertel Raum sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Katharina Finke

global correspondent

Katharina Finke

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