Existenznot ist ein seltsames Wort. Es befindet sich in dauerhafter Koalition mit dem Wort Existenzminimum. Wer in Not gerät, hat das Minimum nicht mehr zur Verfügung. Freiberuflich und selbstständig Arbeitende sind in einem Maße abhängig von äußeren Bedingungen, dass sich der Begriff „abhängig beschäftigt“ aufdrängt. Abhängig: von Krisen. Sozialen. Gesundheitlichen.
Der Begriff stimmt nicht, nach herkömmlicher Lesart sind Selbstständige die unabhängig Beschäftigten. Die Politik mag schon lange nicht mehr von „atypischer Beschäftigung“ reden, weil die von ihr gewollte und in Gesetze gegossene Deregulierung des Arbeitsmarktes das Atypische zum Normalfall gemacht hat. Seit den 1990er Jahren hat die maßgeblich rot-grüne Agenda 2010 reguläre zugunsten prekärer Arbeitsverhältnisse abgebaut. In der Folge sind – nur als Beispiel – Lehrer an Musikschulen Freiberufler geworden, hangeln sich Regisseure von Auftrag zu Auftrag, sind Haushaltshilfen, Friseure, Paketbotinnen, Fahrradkuriere, Pizzalieferanten soloselbstständig, Messebauer, Theaterschaffende, Trainerinnen, Grafiker, Lektorinnen nicht mehr angestellt.
Den meisten von ihnen ist Corona viel mehr als die Androhung einer nicht ungefährlichen Krankheit. Corona könnte vielen das Genick brechen. Die Pandemie verkörpert jene Form höherer Gewalt, die freiberuflich arbeitende Menschen verdrängen müssen. Aus Selbstschutz und um ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Jetzt aber geht das nicht mehr. Corona ist da und wird aus Existenzen Not machen.
Kein Auffangnetz
Viele, aber bei Weitem nicht alle freiberuflich oder soloselbstständig Arbeitende haben sich aus fast oder ganz freien Stücken dazu entschlossen, so zu leben. Sie wissen die Vorteile zu schätzen und finden, dass die größer sind als die ewige Unsicherheit, wie es wohl morgen oder im kommenden Jahr aussehen wird. Sie wissen aber auch, dass ihre Art zu arbeiten eigentlich verlangt, mehr als andere für schlechte Zeiten vorzusorgen. Ihnen ist klar, dass längere Krankheit bedeutet, den Betrieb zu schließen, dass Kurzarbeit für sie nicht infrage kommt und das Renteneintrittsalter nicht mehr ist als eine Zahl, über die sie mit großer Wahrscheinlichkeit hinwegarbeiten müssen. Bis es halt nicht mehr geht.
2018 gab es rund zwei Millionen Soloselbstständige in Deutschland, das sind rund fünf Prozent der Erwerbstätigen. Die Zahlen in Bezug auf Freelancer, Soloselbstständige, Freiberuflerinnen sind ein bisschen verwirrend, je nachdem, wen man wozu zählt. Die Abgrenzung ist auch schwierig, denn es gibt Freiberuflerinnen, die arbeiten solo, andere haben Angestellte. Also lassen wir es lieber bleiben.
Auf der Webseite www.selbststaendig.de wird beruhigt: „Panik ist für Selbstständige fehl am Platz, denn mit kühlem Kopf und einer umsichtigen Planung für den Notfall lassen sich frühzeitig wichtige Weichenstellungen vornehmen … Gefragt sind jetzt, wie eigentlich in ‚normalen‘ Zeiten auch, strategische Flexibilität und Weitsicht.“ Das ist zum Brüllen komisch und zum Heulen naiv. Denn wie soll eine Freiberuflerin überhaupt bis zum heutigen Tag gekommen sein, ohne strategische Flexibilität und Weitsicht? Bislang gibt es für Freiberufler kein Auffangnetz für solche Krisen. Einen Anspruch auf Entschädigung für den Verdienstausfall wegen Corona haben bislang nur jene, die vom Amt in Quarantäne geschickt werden. Diesen Fall regelt das Infektionsschutzgesetz. Es ist möglich, Anträge auf Entschädigung beim Gesundheitsamt zu stellen. Der Deutsche Kulturrat fordert zu Recht einen Notfallfonds für Kunstschaffende. „Insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen sowie Freiberuflerinnen und Freiberufler haben oft keine finanziellen Polster, um Einnahmeausfälle aufzufangen“, betont dessen Vorsitzender Olaf Zimmermann. Die Rufe nach Unterstützung werden inzwischen gehört. Die Bundesländer haben Soforthilfemaßnahmen für kleine Unternehmen, Freiberufler und Solo-Selbstständige angekündigt. Neben den Ländern plant auch der Bund ein Hilfspaket. Es ist von mehr als 40 Milliarden Euro die Rede, die die Bundesregierung dafür zur Verfügung stellen will. Nach Berichten des Spiegel sollen dabei zehn Milliarden als direkte Zuschüsse an notleidende Solo-Selbstständige und Kleinstunternehmen gehen, die restliche Summe soll für Darlehen vorgesehen sein. Anfang kommender Woche soll nun ein Regierungsentwurf vorgelegt und schnell beschlossen werden. Und die Zeit drängt, denn von finanziellen Reserven können die Betroffenen nicht zehren.
Ein Grund für das Fehlen von Rücklagen sind die prekären Honorare für viele Leistungen, die auf dem „freien Markt“ eingekauft werden. 2018 forderte die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, ein Mindesthonorar nach dem Vorbild des gesetzlichen Mindestlohns. „Es kann nicht sein, dass die A-Klasse der freien Berufe, also Anwälte, Apotheker und Ärzte, durch eine Gebührenordnung geschützt wird, aber Grafiker, Malermeister oder Texter oft mit einer minimalen Entlohnung zurechtkommen müssen.“ Wobei Kipping wahrscheinlich auch klar ist, dass ein Mindesthonorar, das sich am Mindestlohn orientiert, auch keine Chance ließe, für Notfälle vorzusorgen. Ein Jahr zuvor hatte die Linksfraktion eine Große Anfrage zur sozialen Lage von Solo-Selbstständigen gestellt. Aus der Antwort ging hervor, dass rund 30 Prozent über ein Nettoeinkommen von unter 1.100 Euro verfügen und die Beitragssätze der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung bei jenen, die nicht das Glück haben, Mitglied bei der Künstlersozialkasse zu sein, bis zu 40 Prozent des Einkommens ausmachen. 2019 wurde dann zumindest die Mindestbemessungsgröße auf 1.142 Euro halbiert, sank der Mindestbeitrag von 420 auf 210 Euro. Aber all das wird nicht helfen, wenn nun die Aufträge wegen Corona für längere Zeit wegbleiben.
Die Fixkosten laufen weiter
Die Gewerkschaft Verdi berichtet von Hilferufen, die bei ihr eingehen. Eine freiberufliche Dozentin an der Volkshochschule zum Beispiel, die nun keine Kurse mehr geben kann, und das über Wochen oder Monate, steht trotzdem in der Pflicht, Abgaben und Fixkosten zu zahlen. Verdi fordert nun, dass bei Einkommensausfällen die Beiträge der gesetzlichen Sozialversicherungen schnell und unbürokratisch gesenkt werden können und Finanzämter die Steuervorauszahlungen für einige Monate absenken. Denn klar ist, diesen Stresstest werden viele „Freie“ nicht überstehen, es sei denn, das eigene soziale Sicherheitsnetz, sprich Familie und Freunde, ist stark genug, das aufzufangen.
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