„In den meisten Unternehmen ist mehr Unterlassung als Unternehmung drin“
Interview Unsere Vorstellung davon, was „die Wirtschaft“ ist und wie sie funktioniert, ist veränderbar, sagt der „Möglichkeitswissenschaftler“ Lars Hochmann. Wir als Gesellschaft sollten das nutzen, um unsere Zukunft besser zu gestalten
Gewiss hat die Art, wie wir als Gesellschaft „die Wirtschaft“ organisieren, sehr viel damit zu tun, welche Interessen sich durchsetzen und den Ton angeben. Sie hat aber auch damit zu tun, welche Begriffe von Wirtschaft wir verwenden und welche Vorstellungen davon unser Handeln leiten. Lars Hochmann untersucht, wie wir uns als Gesellschaft „die Wirtschaft“ vorstellen. Und wie wir das auch ganz anders machen könnten.
der Freitag: Herr Hochmann, bereits mit dem Titel Ihres Buches „Das Imaginäre der Unternehmung. Eine reflexive Theorie der Transformation“ muten Sie uns einiges zu. Was bitte meint das Imaginäre, warum wird der Theorie das Adjektiv „reflexiv“ beigegeben? Und was ist mit Unternehmung gemeint?
Lars Hochmann: Wenn wir an
t mit Unternehmung gemeint?Lars Hochmann: Wenn wir an Unternehmen denken, haben wir bestimmte Bilder vor Augen. Diese Bilder halten wir häufig für zeitlos und allgemeingültig. Aber das sind sie nicht. Es handelt sich nicht um Gesetze der Natur, sondern um Bedeutungen der Gesellschaft, wie es der Sozialphilosoph Cornelius Castoriadis ausgedrückt hat. Mit dem Begriff des Imaginären folge ich seinem Hinweis, dass bei aller Relevanz des Materiellen das Reich der Vorstellungskraft nicht ausgeblendet werden sollte.Also das, was sich nicht aus dem Hier und Jetzt ableiten lässt?Castoriadis bringt da die menschliche Fähigkeit ins Spiel, sich vorzustellen, was noch nicht ist, aber sein könnte.Also unsere Vorstellungskraft?Genau. Aber nicht die individuelle, sondern die gesellschaftliche Vorstellungskraft. Was erscheint einer Gesellschaft als normal, was als abwegig und was als blanker Wahnsinn? Etwa in Bezug auf Mobilität oder darauf, wie wir uns ernähren. Dieser Horizont betrifft auch unsere Vorstellungen der Unternehmung, womit ich die Selbstgestaltungskräfte der Gesellschaft bezeichne. Das Imaginäre bezeichnet die denkmöglichen Bilder davon. Heute ist das skurril. Wir haben ein passives und lebloses Bild von der Unternehmung. Krisen aussitzen, Hände im Schoß. In den meisten Unternehmen ist mehr Unterlassung als Unternehmung drin.Der Optimismus in Ihrem Buch, dass es so etwas wie eine kollektive Imaginationskraft gebe und eine Gesellschaft fähig sei, sich etwas anderes vorzustellen als das, was ist, hat mich angesichts der Gegenwart verwundert.Ich bin nicht optimistisch, dass alles gut wird. Ich habe Hoffnung. Denn das, was eine Gesellschaft als Unternehmung fungieren lässt, hat sich immer schon verändert. Was einst normal war, gilt heute als Korruption, Sexismus, Ausbeutung usw. Einst galt die Unternehmung als pionierhafte Praxis zur Bekämpfung von Unterversorgung. Es war ein langer Weg bis zu der Vorstellung, dass Unternehmen gesellschaftlich nur für Gewinnmaximierung zuständig seien – selbst wenn sie mehr Schad- als Wertschöpfung betreiben. Auch diese Vorstellung kann vorüberziehen. Und genau das geschieht. Wir diskutieren über Purpose und Nachhaltigkeit. Auch über Postwachstum, was historisch interessant ist, weil all die Post-Begriffe nicht zufällig in einer Zeit aufkommen, in der wir nicht mehr genau zu sagen wissen, wie wir künftig leben wollen. Hauptsache: anders.Wäre denn, was allgemein als Energiewende bezeichnet wird, eine kollektive Unternehmung?Innerhalb der Diskussion um Energie-, Mobilitäts-, Ernährungswende usw. gibt es vermehrt Initiativen, die sagen: Neue Inhalte brauchen neue Formen. Und die können wir etwa charakterisieren über größere Teilhabe, Selbstorganisation, Kooperation usw. Das ist nicht der Versuch, Wirtschaft per se zu verteufeln. Wirtschaft ist schließlich kein Naturgesetz, sondern von Menschen organisierte Versorgungspraxis. Die ist gestaltbar, was mit neuen Vorstellungen davon beginnt, was Unternehmungen sein könnten und wozu es sie gibt. Im Feld der Energiewende sind das zum Beispiel Energiegenossenschaften, die neben der Versorgungssicherheit auch die Versorgungssouveränität thematisieren: Wo kommt die Energie her, wer erzeugt sie, wer verdient, wer braucht sie, wer ist beteiligt oder ausgeschlossen? Das ist ein neues Imaginäres. Es bricht mit den Vorstellungen von Exklusivität, Zentralität, Profitorientierung und auch der schematischen Trennung von Fremd- und Selbstversorgung. Im Grunde stellt es auf eine Demokratisierung der Wirtschaft ab.Das Buch fängt mit der These an – die auf den US-amerikanischen Philosophen William James zurückgeht –, eine jede Gesellschaft sei weder notwendig noch unmöglich. Könnte also immer auch anders sein. Das erzählen uns die meisten Ökonomen der Gegenwart aber ganz anders.Wissenschaft hat Anteil daran, was eine Gesellschaft sich vorstellen kann. Viele Ökonom:innen erzählen nicht vom Andersmöglichsein, sondern von TINA (There Is No Alternative) – es gäbe keine Alternative. Da hallt die zweifelhafte Behauptung vom Ende der Geschichte nach. Von nun an die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Diese Idee ist prägend in den Wirtschaftswissenschaften. Da ist zwar viel von Innovation und Fortschritt die Rede, aber immer nur auf dem eingeschlagenen Pfad. Sollte das zutreffen, liegt ein Jahrhundert erbitterter Ressourcenkriege vor uns.Placeholder infobox-1Brauchen wir eine neue Aufklärung?Ja, eine, die nicht in den Köpfen verbleibt, sondern in eine aufgeklärte Praxis mündet. Aufklärung als Befähigung zur Gestaltung.Seit Februar muss der historische Optimismus ganz schön was einstecken. Wir werden als Schicksalsgemeinschaft beschworen. Worunter ich verstehe: Änderbar ist gerade gar nichts, alles, was wir tun können, ist, zu halten, was wir haben.Das genau meint: Eine andere Gesellschaft kommt nicht notwendigerweise. Das ist ein falscher Begriff der Geschichte. Auch die Verwunderung, dass Krieg in Europa heute noch möglich ist, geht davon aus, dass einmal Errungenes ewig währt. Nein, wir müssen aktiv werden und bleiben. Die Welt bleibt gestaltbar, auch wenn wir es uns nicht vorstellen können.Ihr Ausgangspunkt ist – zugespitzt: Unser ökonomisches Denken liegt in Fesseln und Ketten – wir haben uns selbst Denkgefängnisse gebaut. Reden wir mal über diese Gefängnisse. Gibt es da gutes Essen, eine Bibliothek, täglichen Freigang, Aussicht auf Haftverkürzung? Kann man in diesem Gefängnis etwas für eine andere Zukunft lernen? Wird es uns hübsch gemacht, damit wir gefälligst bleiben?Damit meine ich einen Denkstil mit großen Voraussetzungen, die nicht hinterfragt, geschweige denn begründet werden. Aber da fängt das Denken ja eigentlich erst an. Indem man auch die eigenen Bedingungen und Wirkungen reflektiert: Worüber rede ich eigentlich? Nicht nur mit Begriffen hantieren, sondern über Begriffe nachdenken. Wenn ich etwa die Welt in Angebot und Nachfrage vermesse, ordne ich dem auch alles unter. Dass Menschen aber nicht nur nachfragen, sondern zum Beispiel existenziell bedürftig und angewiesen sind, wird denkunmöglich. Ich finde es daher außerhalb der Denkgefängnisse schöner. Für den Ausbruch benötigen wir bloß Reflexivität: sich immer wieder zurückbeziehen und vergewissern, wo man steht und wie man auf die Welt blickt.Leiden wir an Begriffsarmut?Nicht unbedingt. Die Begriffe haben ihre Berechtigung. Ein Problem entsteht, wenn sie nicht mehr begründet, sondern einfach gesetzt werden: Unternehmen sind dafür da, Gewinne zu machen. Das ist eine Behauptung. Da fordere ich eine Begründung ein. Und wenn jemand mit dem größten Glück der größten Zahl und Trickle-down um die Ecke kommt, muss ich sagen: Das ist lange widerlegt, hat uns in lebensbedrohliche Krisen geführt und überzeugt mich insofern kein Stück.Die Ökonomik hat sich von der Gesellschaft abgespalten?In dem Sinne ist es Begriffsarmut.Die Gesellschaftslosigkeit der Wirtschaftswissenschaften und die Wirtschaftslosigkeit der Gesellschaft nennen Sie das.Ein positiver Begriff von Gesellschaft ist in den Wirtschaftswissenschaften selten. Es gibt auch keinen Planeten, auf den wir angewiesen sind. Die ganzen Ressourcen purzeln schlaraffenlandmäßig in die Unternehmen. Auf der anderen Seite haben wir weite Teile der Sozialwissenschaften, für die Wirtschaft stets des Teufels ist. Beide verlieren sich an das heute dominante Imaginäre der Unternehmung und halten es irrtümlicherweise für das einzig mögliche.Wirtschaft realisiert sich nicht in der Gesellschaft, sondern als Gesellschaft. Sie reden in Ihrem Buch von einer ontologischen Verleugnung – Abspaltung von der Natur und deren kulturelle Zurichtung. Durchdringung, Kapitalisierung.Das ist ein anwachsender Zusammenhang. Natur wurde erst entzaubert, dann trivialisiert und schlussendlich zur Ware. Ökonomie spielt da eine entscheidende Rolle, wenn sie Natur als Gegenstück zum Menschen betrachtet. Wir verleugnen uns als Teil der Natur. Diese Entfremdung hat schlimme Folgen.Könnte Unternehmung in Ihrem Sinne das heilen?Ja. Die entscheidende Frage dabei ist, wie das geht. Ein solidarischer Umgang mit der Natur verlangt einen solidarischen Umgang mit Menschen.Ein Traum.Ein Grund mehr, das Träumen wieder zu lernen.Ein Zielfoto. Wir brauchen ein Zielfoto.Ja. Eine Debatte darüber, wie wir leben wollen, die nicht nur im Privaten stattfindet oder das Privileg einer kleinen Gruppe ist. Wenn wir sagen können, wie wir leben wollen, ist der nächste Schritt, zu überlegen, wie man dorthin kommt. Dann sind Menschen auch willens und finden Wege, etwas zu unternehmen und Verantwortung zu übernehmen, also Antworten zu geben auf die Krisen. In Vielfalt, aber nicht vereinzelt.