Wie das Gegenüber es mit dem Trinkgeld hält, half schon mal bei der Entscheidung, ob man sich nach dem ersten Date wiedersehen will
Foto: Emmanuel Pierrot/Agence Vu/Laif
Diese schönen kleinen Momente der Konfusion gehören bald ganz der Vergangenheit an. Man hat sich geeinigt, wer die Rechnung bezahlt. 28,50 steht auf dem Bon. Das Essen war okay, das Bier auch, die Kellnerin hat nie vergessen zu lächeln, wenn sie an den Tisch kam. Zehn Prozent Trinkgeld sollen drauf. So ist es einer beigebracht worden, so ist es Brauch. Hat man überhaupt Kleingeld? Zehn Prozent sind … 2,85. Oh Gott, 28,50 plus 2,85. Sagen wir drei, so schnell rechnet sich das nicht. 31,50. Klingt doch krumm, oder? Sagen wir 32. Hast du noch Münzen?
Die Höhe des gegebenen Trinkgeldes half bei der Entscheidung, ob man den oder die Gegenüber noch mal wiedersehen wollte. Rundete der Typ von 9,80 auf 10 auf, war die Sache entschieden. Knausrigkeit ist syst
t ist systemisch und fremdschämen kann man sich auch vor dem Fernseher.Trinkgeld steckt voller Informationen. Über die zufällig zusammengewürfelte Beziehungsgruppe im Restaurant, über die Gesellschaft, über einen selbst. Es ist – darüber zerbrechen sich Ökonominnen und Soziologen die Köpfe – nah dran am irrationalen Verhalten. Warum geben wir es? Nicht nur in der Stammkneipe, sondern auch dann, wenn wir die Kellnerin nie wiedersehen werden? Wobei ein vorab gegebenes Trinkgeld ja quasi Bestechung wäre, also hier nicht zur Verhandlung steht.Digitales Trinkgeld auf dem Display auszuwählen, fühlt sich nach Zwang anBei anderen Gelegenheiten liegt die Erklärung auf der Hand. Vom Handwerker erhofft man sich, dass er beim nächsten Rohrbruch schnell kommt, weil er sich der zehn Euro erinnert, die man ihm am Schluss noch zugesteckt hat. Handwerker sind fürchterlich rar und können sich inzwischen aussuchen, wem sie zu Diensten sein wollen. Es wäre interessant zu wissen, was man gegenwärtig für den Einbau einer Wärmepumpe am Ende obendrauf gelegt bekommt. Der Friseur sollte möglichst immer gute Arbeit leisten, sonst hat man die Folgen wochenlang zu tragen. Die Taxifahrerin? Beim nächsten Mal wird es eine andere sein. Und warum gebe ich der Taxifahrerin Trinkgeld, aber nicht der Busfahrerin, die mich mit einem Doppeldecker zum Bahnhof Zoo bringt? So ein Doppelgeschoss ist doch viel schwerer durch die Großstadthölle zu fahren als ein Auto.Trinkgeld ist eine Konvention, eine Art Übereinkunft – selbst der Knigge gibt Rat und empfiehlt zwischen fünf und zehn Prozent. Die in der Schule gelernte Prozentrechnung bewährte sich in der Praxis. Nun wird man zunehmend oft beim Zahlen mit EC-Karte gebeten – und das nicht nur im Restaurant, sondern an allen möglichen Theken, vom Bäcker bis zum Späti, über die etwas gereicht wird –, auf einem Display die Prozentzahl anzukreuzen. Aus einer persönlichen Sache ist ein Akt geworden, dem der Charme fehlt. Es fühlt sich nach Zwang an. Und man verlernt die letzten Reste Prozentrechnung. Die Erfahrungen sagen übrigens, dass die meisten in solchen Fällen den Mittelwert antippen. Zehn Prozent auf alles. Außer Tiernahrung (Kann sich noch jemand an diese schräge Werbung erinnern?).Trotzdem versuchen wir, den Erwartungen zu entsprechen. Wer wohin fährt oder fliegt, macht sich oft vorher klug, wie die Konventionen da lauten. 15 bis 20 Prozent in den USA; Österreich, Italien, Portugal ähnlich wie hier; in ostasiatischen Ländern gilt Trinkgeld eher als Beleidigung. Das sollte man vorher wissen, bevor die einer in China die Leviten lesen.Irrational finden manche Ökonomen, wenn man etwas zahlt, ohne dafür noch eine Gegenleistung zu bekommen. So denken die halt. Trinkgeld gebe ich erst, wenn die Leistung erbracht ist, die Höhe entscheidet nicht mehr über die Qualität des Services, sie ist höchstens ein Dank dafür, dass er gut war. Schlimmer noch, wenn ich es nicht einmal auf eine möglicherweise künftige Leistung gebe – als Vorschuss sozusagen, fällt die Gabe doch völlig zu meinem Nachteil aus. Als Homo oeconomicus versage ich an der Stelle völlig. Das gilt auch für die in den USA inzwischen recht verbreitete „Tipflation“. Immer höhere Trinkgelder für nicht wirklich bessere, oft sogar schlechtere Leistungen in sich ausweitenden Kampfzonen. Da wird einfach gefordert, und das ist in Pandemiezeiten auch klaglos akzeptiert worden. Inzwischen dreht sich der Wind.Trinkgeld muss nicht versteuert werdenSoziologinnen haben es einfacher mit den Erklärungen. Menschen neigen zu Empathie und sozialer Kompetenz. Das widerspricht der Vorstellung konventioneller Ökonomie. Viele Menschen wissen beispielsweise, dass die Kellnerin trotz Mindestlohn kein allzu üppiges Gehalt bekommt. Wahrscheinlich sogar darauf angewiesen ist, mit den Trinkgeldern ihre Existenz zu bestreiten. Wir reagieren auf ökonomische Missstände (siehe Tipflation). Hoffen vielleicht auch, dass die Trinkgelder des Tages in einen Topf fließen und das Küchenpersonal auch etwas davon hat. Dem ist ja verwehrt, mir dabei zuzusehen, wie ich Prozentrechnung kann. Das steht an einem heißen Sommertag in einer noch heißeren Küche und hält tausend Bälle gleichzeitig in der Luft, während draußen am weiß gedeckten Tisch ein Gast das Lachsfilet für zu trocken befindet.Wir wünschen uns, dass der Restaurantbesitzer kein Lohndrücker ist, der dem Personal verspricht, dass auf das magere Gehalt ja ein weitaus üppigeres zweites Gehalt namens Trinkgeld käme, das nicht einmal versteuert werden muss (so sagt es Paragraf 7 der Gewerbeordnung, die zugleich verbietet, dass eine Arbeitnehmerin ausschließlich für Trinkgeld arbeitet). Vielleicht hörten wir auf, in Restaurants Trinkgeld zu geben, wüssten wir, dass die Bedienung den Stundensatz eines Anwalts für Erbrecht erhält oder das Jahreseinkommen eines Geschäftsführers der Deutschen Bank bekommt. Womit wir aber wieder beim Irrationalen wären.Es gibt in diesem Land sehr viele Menschen, die sehr wenig oder viel zu wenig Geld verdienen und sehr viele Dienstleistungen erbringen, von denen nicht wenige sehr lebensnotwendig oder mindestens lebenswichtig sind. Die für uns putzen, unseren Wohlstandsmüll von den Straßen und aus den Parks räumen, unsere Angehörigen oder uns selbst pflegen, unsere Kinder betreuen, sich mit uns nachts in den Notaufnahmen des Landes rumschlagen, im Krankenhaus das Essen austeilen, in Hotelzimmern jeden Morgen die Zahnpasta aus den von uns benutzten Waschbecken kratzen, in den Warenlagern von Amazon ausgebeutet werden, an der Kasse eines Supermarktes sitzen und sich das Genörgel (Kann mal jemand eine zweite Kasse aufmachen?) der Kunden anhören, im Kino die Karten abreißen. Lassen wir die Kassiererin mal beiseite, die wird ja schon entlassen, wenn sie einen Pfandbon unterschlägt. Was würde erst passieren, nähme sie Trinkgelder an?Trinkgeld ändert nichts an schlechter BezahlungAls Ersatz für Trinkgeld haben wir während der Pandemie den Applaus gefunden und Plüschtiere in die Fenster gestellt. Aber vielen ist sicher klar, dass dies nicht nur nicht reicht, sondern Trinkgelder als Kompensation für ein in großen Teilen ungerechtes Entlohnungssystem und eine angemessen empathische und soziale Reaktion der Gesellschaft gelten können. Die wir nicht leisten können, weil die Ungerechtigkeiten zu groß und unsere Möglichkeiten beschränkt sind. Trotzdem – dieser Befund harrt noch der Evaluation – weiten wir die Trinkgeldzonen aus. Im Zweifelsfall durch ein Päckchen Kaffee für die Schwestern der Station für Viszeralchirurgie, denen wir für die Zeit unseres Krankenhausaufenthaltes unser Leben überantwortet haben.Wir legen der Garderobiere in der Volksbühne einen Euro auf den Tisch, weil wir uns vorstellen können, dass sie tagsüber Biochemie studiert, für 600 Euro Monatsmiete in einer abgefuckten Besenkammer haust und fünf Mal die Woche Nudeln isst, um über die Runden zu kommen. Wir fragen bei der Sprechstundenhilfe, ob es eine Kaffeekasse gibt – was allerdings unter intrinsische Motivation fallen könnte, schließlich wollen wir beim nächsten Anruf einen Termin innerhalb des nächsten halben Jahres bekommen. Zu Weihnachten bekommen die Putztruppe, die nachts unsere Büros reinigt, und das Team an der Pforte ein Dankeschön in Form von Naturalien geschenkt. Wir runden bei der Bäckereifachverkäuferin und im Späti auf, aber niemals beim Anwalt für Erbrecht, wenn der uns die Rechnung schickt. Es scheint, als hätten viele das richtige Gespür und ein Gefühl dafür, dass die Welt ziemlich ungerecht ist und man durch kleine Gesten zumindest zeigen kann, dass man das verstanden hat.Kürzlich hat die Autorin dieses Textes ein fast unangemessen üppiges Trinkgeld für die Antwort einer Kellnerin auf die Frage, was sie zu essen empfehlen würde, gegeben. Die Antwort der freundlichen Dienstleisterin hatte „Nichts!“ gelautet. Das schien ein wertvoller Rat gewesen zu sein. Uneigennützig und so gar nicht auf Vorteil bedacht.
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