Nationalfeiertag heißt es ja offiziell nicht, auch wenn dies den Menschen im Osten ein wohlvertrautes Wort ist. Der 3. Oktober aber ist der „Tag der Deutschen Einheit“. Das Nationale kommt von ganz allein, man muss es gar nicht anrufen. Am 3. Oktober 1990 war der Beitritt vollendet und die DDR vorerst abgeschlossene Vergangenheit. Ein großer Trugschluss natürlich, wie wir besonders in Jubiläumsjahren nicht aufhören festzustellen. Das Ostdeutsche ist virulent, mit ihm die DDR, und auf dem Seziertisch unter grellem Licht sieht es immer noch nicht schön aus. So viele alte Blessuren. Schlecht verheilt oder weiter behandlungsbedürftig. So viel schlechte Laune, die sich andauernd entäußern will. Als sei die Mauer, die gefallene, ersetzt worden durch ein ewig trennendes Wehklagen.
Manche Ostdeutsche, nicht wenige vielleicht, nehmen den 3. Oktober mit und gehen weiter auch am 7. Oktober nach der Arbeit, denn viele haben eine, was trinken. Auf die Verflossene. In der DDR war der 7. Oktober Nationalfeiertag, die kleine BRD hatte sich 1954 den 17. Juni zum „Tag der Deutschen Einheit“ erkoren. Sich sozusagen den Aufstand der anderen zu eigen gemacht, wie man unter Brüdern und Schwestern teilt und teilhat, und darauf rekurriert, dass es beim nächsten Mal bestimmt klappen wird. Hat ja auch geklappt. Wir sind eins.
Wir sind uns immer noch nicht einig.
„Zahlreiche Indikatoren zeigen, dass wir bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West seit 1990 weit vorangekommen sind.“ Das sagt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, und der Satz stimmt in allen seinen Teilen. Das Präfix „vor-“ sagt klar, dass wir nicht angekommen sind. Aber vorwärts auf jeden Fall. Bei der Wirtschaftsleistung von 43 Prozent des westdeutschen Niveaus im Jahr 1990 oder Jahre Null auf heute 75 Prozent. Das wäre ausreichend, einmal in Ruhe darüber zu sprechen, ob denn wirklich in allen Teilen die Angleichung der Lebensverhältnisse gemeint und gewollt war, wenn es doch nur in eine Richtung sein sollte. Also von Ost nach West. Im Rausch der Nachahmung sind sich die Ostdeutschen vielleicht etwas verloren gegangen. Und die Westdeutschen haben verloren, was angesichts der Marktbereinigung überflüssig geworden ist. Der Sozialstaat ist ja kein Muss, sondern eine Kann-Bestimmung des Kapitalismus. Der sich seine Käufer und Liebhaber noch immer kaufen muss. Aber wenn nichts mehr da ist, auf das sich mit dem Finger zeigen lässt, braucht er auch nicht verschiedene Angebote zu unterbreiten. Dann wird gegessen, was auf den Tisch kommt.
Es wird gern behauptet, die Ostdeutschen redeten anstatt über die 75 fast nur über die 25 Prozent. Die noch fehlen zu etwas, das wir „westdeutsches Niveau“ nennen. Eine völlig unbestimmte Formel, der kein Feuer und keine Lust innewohnt. Westdeutsches Niveau, ostdeutsche Aufholjagd, das tut, als strample die eine nur und der andere schaute beim Strampeln zu. Da sind wir mitten im Elend. Denn auch die Westdeutschen scheinen bevorzugt gern über die 25 Prozent zu reden und diese „pars pro toto“ zu nehmen. Es sind andere 25 Prozent. Die schlagen sich in Wahlergebnissen nieder und sind die gegenwärtig schlimmste aller denkbaren Alternativen für Deutschland. Nicht jeder Westimport ist bei der Angleichung der Lebensverhältnisse und aller anderen Dinge eine gute Sache gewesen.
„Der Angleichungsprozess ist noch nicht vollendet.“ Sagt Christian Hirte, der mit seiner Funktionsbeschreibung dafür steht, dass irgendwas nicht stimmt. Wieso gibt es einen Ostbeauftragten? Weil es viele Beauftragte gibt in der Bundesregierung, könnte man antworten. Beauftragte sind ein ins Wort gegossenes Versprechen, dass sich jemand kümmern wird. Weil er einen Auftrag hat. Und weil die, um die es sich zu kümmern gilt, das selbst nicht hinbekommen. Es wäre gut gewesen, sich dagegen zu wehren, dass es Ostbeauftragte gibt. Weil sich nicht dagegen wehren die Anerkenntnis beinhaltet, ein Problemfall zu sein. Wo die Ostdeutschen doch ganz am Anfang, für wenige Tage nur, ein Glücksfall zu sein schienen.
Christian Hirte ist ein netter Mann und am 3. Oktober, Jahr für Jahr, schlägt seine Stunde bzw. die Stunde seinesgleichen, weil einer wie er dann Zahlen über den Osten verkünden kann, die tatsächlich die Sprache einer Aufholjagd sprechen. Aber doch keine Antwort geben auf die Frage, warum die im Osten und die im Westen so fremdeln.
Und warum dieses Fremdeln – aus dem ja Neugier entspringen könnte, eine unbändige Lust, das andere zu erfahren, ohne ihm gleich werden zu müssen – einer Kommission bedarf, die den Namen „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ trägt und ein Konzept für Feierlichkeiten zu erarbeiten hatte, die wir nun abspulen, um uns zu vergewissern, dass wir wirklich stattgefunden haben. Dass es uns gibt und dass wir eins sind, selbst dann, wenn wir uns gar nicht so fühlen.
Der Ostbeauftragte wird auch in den kommenden Jahren die prozentuale Angleichung der Lebensverhältnisse vermelden. Würden die Lebensverhältnisse insgesamt schlechter, ginge die Angleichungskurve trotzdem stetig nach oben. Darin liegt die eigentliche Traurigkeit.
Denn nur in den Unterschieden schlummert Schönheit.
Kommentare 6
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht, wenn es denn je gut gemeint gewesen war. Durch die Hintertür haben wir vieles (vor allem nachteiliges) des untergegangenen Staatsgebildes wiederbekommen. Wir dürfen es nur nicht merken. Gesamtdeutsche Angleichung hin - soziale Spaltung her.
>>Manche Ostdeutsche, nicht wenige vielleicht, nehmen den 3. Oktober mit und gehen weiter auch am 7. Oktober nach der Arbeit, denn viele haben eine, was trinken.<<
Ein genialer Schriftstellersatz.
Eine merkwürdige zahlenspielerei: nach 30 jahren schon 75 prozent des "west"niveaus erreicht, wow! Und wie lange dauert es noch bis es 95 prozent sind? Weitere 30 jahre?!. Dh. 60 jahre nach der wende - vielleicht (die ddr bestand nur 40 jahre, sic!).
Derartiges zu bedenken ist der autorin fremd, sie stimmt einfach Hirte zu, und das war's - wie peinlich ist das denn?
Aber was ihr ganz aus dem blick gerät, sind die menschen und ihre schicksale, die sich dahinter verbergen, dass es keine ostdt. rektoren an ostdeutschen universitäten gibt, dass keine ostdt. obersten richter über recht und unrecht befinden, kein direktor eines finanzamts aus dem osten stammt - ja, auch ostdeutsche hatten karrierehoffnungen; machen konnten sie allerdings nur karrieren 2. klasse - daher kommt das gefühl dt. 2. klasse zu sein...
Das hat die autorin offensichtlich (gern) übersehen!
Richtig!
Stichwort: Thüringen: K+S und die Treuhand hatten die Geheimhaltung ...
https://www.zeit.de › DIE ZEIT Archiv › Jahrgang 2014 › Ausgabe: 14
Ein Glücksfall für Thüringen, dieser MP Bodo Ramelow! Solange noch in den Thüringer Supermärkten - Steinsalz aus Bad Reichenhall angeboten wird und kein Thüringer … braucht mir keiner Märchen zu erzählen! ( Mit der Herstellung von 3,2 Mio Tonnen K2O im Jahr 1989 stand die DDR aber an dritter Stelle im weltweiten Vergleich der Kalidüngemittelproduktion. )
Grüße aus den besetzten, über den Nuckel gezogenen Ost- Gebieten! Apatit
Genau das erzeugte den Minderwertigkeitsfrust im Osten, der nach 1990 von eingewanderten Nazis in die rechte Ecke gedrückt wurde. Vorteilhafter für die Sieger des Kalten Krieges als eine Fortsetzung des 1989-iger Aufbegehrens in der DDR. Nazis, nun schon in der 2. Nachwendegeneration. Und die "Gewinner", die sie walten ließen werden sie nicht mehr los. Dabei weisen sie nur auf den Osten und verkennen ihr Versagen: Von Deutschem Boden geht wieder Krieg aus und die Opfer kommen (noch unbewaffnet) zu uns. Was wir haben ist DDR2.0, nur baut die nicht den Sozialismus, sondern unseren Untergang auf.
Sorry, der obige Kommentar war eigentlich hierzu gedacht. Passt aber auch.