Bewusstwerdung kann schmerzhaft sein. Vor allem, wenn sie plötzlich kommt. Das hat auch Norbert Röttgen jetzt erfahren müssen: Die atomare Katastrophe von Fukushima stellt in seinen Augen eine „Weltveränderung“ dar, eine „neue Realität“ – ein Ereignis, das graue Theorie erstmals fassbar gemacht hat. Selbst der Bundesumweltminister ist sich nun bewusst, dass Kernreaktoren kaputt gehen können. Auch jenseits der ukrainischen Pampa, inmitten eines Hochtechnologielandes wie Japan. Das war ihm vorher gar nicht klar.
Im Jahr 25 nach dem Super-GAU von Tschernobyl, 32 Jahre nach Harrisburg und mit Blick auf die kritische Haltung gegenüber einer Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke, die 65 Prozent der Bundesbürger ers
2;rger erst im Oktober demonstrierten, erscheint das skurril. Aber Norbert Röttgen ist nicht allein. Im Entsetzen über das wenig überraschende Ereignis und in den bangen Fragen nach Erdbebengefährdung und Flugzeugabsturzresistenz deutscher Meiler spiegelt sich noch immer eine Bewusstlosigkeit darüber, dass Störfälle bis hin zum allergrößten anzunehmenden Unfall, dem Super-GAU, jedes noch so moderne und mit Sicherheitsvorkehrungen ausgestattete Kernkraftwerk heimsuchen können. Es muss, darin gleichen sich sämtliche Reaktoren dieser Welt, bloß die Kühlung ausfallen.Der Unfall von HarrisburgWodurch sie ausfällt, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Im Reaktor 2 von Three Mile Island, Harrisburg, war es 1979 kein Naturereignis, sondern eine kleine Signallampe, die ihre Arbeit auch noch völlig korrekt erledigte indem sie den Stromfluss zu einem Ventil anzeigte. Das Lämpchen erlaubte aber leider auch eine Fehlinterpretation für den seltenen Fall, dass zwar Strom zum Ventil fließt, das Ventil aber gar nicht reagiert. Und so wurde ein Lämpchen zum ersten und entscheidenden Glied jener Kette von Umständen, die schließlich zur partiellen Kernschmelze und zum Austritt von Radioaktivität in Harrisburg führten. In anderen Fällen kam es nicht so weit, dennoch wurden bei den bisher 25 größeren Unfällen an Kernreaktoren weltweit immer wieder auch Menschen beschädigt und radioaktive Substanzen in die Umwelt freigesetzt../resolveuid/90367d6c6d83eca0cf978544003d2bf5 (Grafik links: Moderne Reaktoren gibt es nur auf dem Papier. Fast alle heute betriebenen Kraftwerktypen stammen aus den frühen Jahren des Atomzeitalters. Zum Öffnen der Grafik als pdf-Datei bitte aufs Bild klicken)Hinzu kommt, dass jeder Störfall eine erstmalige Konfrontation mit Umständen darstellt, die man vorher weder üben noch vollständig kalkulieren kann. Die Physik gibt zwar logisch vor, was im Prinzip passieren wird, wenn eine Kettenreaktion außer Kontrolle gerät. Jeder Reaktor lässt sich dabei auch einem prinzipiellen Design zurordnen – sei es im Fall Fukushima I der nun oft gezeigte Siedewasserreaktor, in dem die Brennstäbe direkt ins Kühlwasser tauchen, oder der Druckwasserreaktortyp wie in Harrisburg, bei denen das Wasser im Reaktorbehälter in einem geschlossenen Kreislauf gehalten wird, oder der mit Gas gekühlte Grafitreaktortyp, zu dem im weitesten Sinne auch Tschernobyl gehörte, oder auch Brutreaktoren wie der Plutoniumbrüter von Sellafield, der 1957 in Brand geriet: Die Ausformung der vier prinzipiellen Konzepte hat in den Jahren zwischen 1960 und 1980 allerdings eine Evolution durchlaufen, die über den Erdball verteilt eine Vielfalt von Reaktorbaureihen hervorbrachte (siehe Grafik), mit unterschiedlichen Ansprüchen nicht zuerst an die Sicherheit, sondern an Effektivität, Brennstoffzusammensetzung und Ausstoß von Spalt- oder Transmutationsprodukten, die zu einem bedeutenden Teil für den Bau atomarer Sprengköpfe gebraucht wurden – und noch werden.Jede Baureihe hat ihre Umsetzung letztlich auch an einem individuellen Standort mit eigenen geologischen Voraussetzungen gefunden, in Gebäuden, die von Fall zu Fall unterschiedlich konzipiert wurden – in denen die Notkühlungsvorrichtungen etwa allesamt auf einer Ebene angebracht sind, wie es in den Problemreaktoren von Biblis A und B der Fall ist.Vagabundierender DämmstoffAuch das so genannte Containment (der Reaktordruckbehälter, der die letzte Barriere zur Freisetzung radioaktiven Materials aus dem Reaktorkern darstellt) ist nicht allein vom Reaktortyp abhängig. Material und Auslegung richten sich auch nach der spezifischen Bauweise des Atomkraftwerks und bieten entsprechend vielfältige Einfallstore für akute Probleme, wenn der Druck im Reaktorgefäß steigt. Probleme, die sich ebensowenig simulieren lassen wie die Verschleißerscheinungen, die angesichts des hohen Alters vieler Reaktoren gar nicht mehr zu vermeiden sind. Im schwedischen Kernkraftwerk Barsebäck, nur einen Steinwurf von der dänischen Hauptstadt Kopenhagen entfernt, mussten verblüffte Kraftwerksarbeiter Anfang der Neunziger feststellen, dass im Kühlkreislauf abgelöstes Dämmmaterial vagabundierte und die Siebe verstopfte (s. Freitag Nr. 26/2010). Nur mit Glück ließ sich nach nur 17 Jahren Laufzeit ein GAU vermeiden.Für zahlreiche, auch deutsche Kernkraftwerke sind trotz dieses Zwischenfalls und zahlloser weiterer Fast-Unfälle weit längere Laufzeiten vorgesehen – teilweise von mehr als vierzig Jahren. Selbst Befürworter der Kernkraft, wie der ehemalige AKW-Ingenieur Lars Olov Höglund jüngst im ZDF, schütteln darüber nur den Kopf: Ein adäquater Ersatz von marodierenden Bauteilen sei in Kernkraftwerken, die in den Sechzigern oder Siebzigern konzipiert wurden, gar nicht mehr möglich. Man müsse dann auf Ersatzteile zurückgreifen, die nicht genau passen.Die Mehrzahl der deutschen Atommeiler ging zwar erst in den Achtzigern ans Netz, doch gebaut wurden diese Kernkraftwerke fast alle in den Siebzigerjahren. Bis auf drei sind alle Druckwasserreaktoren vorsintflutliche Vor-Konvoi-Anlagen, die Siedewassermeiler sind von ähnlicher Bauart wie die Reaktoren in Fukushima. Und es braucht weder ein Beben noch einen Flugzeugabsturz, um diese Kernkraftwerke zur Gefahr für das ganze Land zu machen.