Eine Sucht fürs Leben

Nahrung Ärzte warnen, Mütter verzweifeln, Lebensmittelkonzerne machen Profit mit Ersatzmitteln: Die Image-Talfahrt des Zuckers hält an. Das ist ungerecht – und ungesund

Es war einmal, vor langer Zeit, da gab es keine Supermärkte. Was die Menschen zum Essen brauchten, kam mehr oder weniger direkt vom Acker, aus dem Wald oder vom Tier. Aber wenn es Supermärkte gegeben hätte, vor fünf-, sechshundert Jahren, solche wie heute, die nicht nur vor Ostern vollgestopft gewesen wären mit Eiscreme, Milchdesserts und Schokohohlfiguren – es hätte als Triumph der Medizin gegolten. Niemand hätte auf Schokoladenhasen und Nougateier geschimpft, den Argwohn der Gelehrten hätte eher die Obst- und Gemüseabteilung geweckt, insbesondere frisches Obst und Pilze hatten den Ruf, regelrecht giftig zu sein. Dagegen galt ausgerechnet Zucker in der damaligen Lehre von den Körpersäften als gesund, wärmend und wohltuend. Kombiniert mit Rosinen, Mandeln, Milch, Reis, Mehl, Fleisch und duftenden Gewürzen: das ideale functional food, lebensverlängernd und gut.

Man wünscht sich aus einer Vielzahl von Gründen nicht zurück in diese Zeit. Unter anderem hätten die meisten Menschen einen solchen Supermarkt nie von innen gesehen, und um den Gesundheitswert ihrer Nahrung konnten sie sich erst recht nicht viele Gedanken machen – das blieb ein Privileg der Betuchten, die sich den Koch damals zugleich als Hausarzt hielten.

Ein Erfolgsprojekt der Evolution

Natürlich steht die moderne Wissenschaft heute auf einem breiteren Fundament, so dass sich in der Summe viele Menschen einer höheren Lebenserwartung erfreuen. Doch dafür versauert uns die Forschung dieses verlängerte Leben mit einer ob­struktiven Ernährungslehre, zu deren scheinbar unverrückbaren Grundpfeilern die Auffassung gehört, dass Zucker an sich böse ist.

Vom ersten Kindeszahn an soll er sich in schlechter Absicht durch den Körper nagen, Karies füttern, Vitamine rauben, das Blut überschwemmen, die Bauchspeicheldrüse triezen, erst dick und schließlich krank machen. Die Zucker-Panik scheint die Fett-Hysterie abgelöst zu haben, nun treibt nicht mehr der Cholesterinspiegel den Gesundheitsexperten den Schweiß auf die Stirn, jetzt ist es der Blutzucker. Falls der dauerhaft zu hoch bleibt, greift er Nieren und Nerven an. Legt sich die süße Energie auf Bauch und Hüften, steigen die Risiken für Volksleiden, von Krebs bis Herzinfarkt. Mit unserer Zuckerleidenschaft schaufeln wir uns demnach ein gesundheitspolitisches Milliardengrab – dem wir kaum entrinnen werden. Und trotzdem lieben wir Zucker. Warum? Ist die Werbung daran schuld? Die Gewohnheit? Ein degenerierter Geschmackssinn?

Zunächst einmal, und das ist eine grundlegende Tatsache, liefern Traubenzucker, Haushaltszucker und Honig dem menschlichen Organismus die zentrale Substanz seines Energiestoffwechsels: Glukose. 160 Gramm dieses Superzuckers benötigt ein Mensch täglich, drei Viertel davon verbraucht allein das Gehirn. Was nicht bedeutet, dass man diese Menge als Zucker essen sollte oder sogar müsste. Stärke aus Mehl, Reis, Kartoffeln liefert auch Glukose, und je nach Lebenslage ist der Körper jederzeit imstande, den wichtigen Stoff aus allerlei anderem selbst herzustellen, aus Molekülen, die dem Abbau von Fett oder Eiweiß entstammen. Doch egal, was man auch isst: Im Zucker treffen sich die großen Nährstoffe alle wieder, denn ohne ihn geht nun einmal nichts.

Dass es sich so verhält, hat eine Geschichte, die weit vor der Entstehung der Menschen beginnt. Zucker ist sozusagen ein Erfolgsprojekt der Evolution, eingeschweißt in den Stoffwechsel zahlloser Lebewesen, der Dreh- und Angelpunkt eines erfolgreichen Überlebens. Und was so wichtig ist fürs Überleben, für das entwickelt die so hochgeschätzte Natur eben auch das entsprechende Sensorium. Schon Babys lernen den Geschmack von Zucker kennen, und an Mamas Brust erfahren sie gleich noch, dass die süße Milch mit einem verdammt guten Gefühl verbunden ist. Ausgelöst wird das Gefühl hier zwar gar nicht durch den Zucker, sondern durch ein Hormon im Gehirn, Oxytocin, das in unterschiedlichsten Situationen Glücksempfinden vermittelt, unter anderem beim Sex. Aber was Hänschen als Nebeneffekt des süßen Geschmacks kennenlernt, vergisst auch Hans nicht so schnell. Und damit ist die Eichung aufs Süße noch nicht abgeschlossen.

Auch jenseits der Stillphase verfügt das Gehirn über ein komplexes Netzwerk, das Zucker mit der Psyche verbindet. Manche Säugetiere können Zucker sogar wahrnehmen, ohne ihn wirklich zu schmecken: An Mäusen haben Forscher vor drei Jahren einen sechsten Sinn entdeckt, der Zucker unabhängig von der Zunge erspürt und selbst geschmacksblinde Tiere problemlos zwischen Süßstoff und Zucker unterscheiden ließ. Echter Zucker – beziehungsweise der Superzucker Glukose – bewirkt im Gehirn zudem direkt eine Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin und heftet sich an Rezeptoren im so genannten Belohnungssystem.

Dass der Mensch von Zucker abhängig ist, erscheint vor diesem Hintergrund nicht gerade als gewagte Behauptung. Im Gegensatz zu vielen anderen Drogen entfaltet die „Volksdroge Zucker“ aber nicht automatisch eine zerstörerische Sucht samt Folgeschäden.

Schließlich war und ist es einer der unschlagbaren entwicklungsgeschichtlichen Vorteile des Menschen, sich Zugang zu süßem Nährstoff verschaffen zu können: Der Wiener Wissenschaftstheoretiker Franz Wuketits stellt in seinem Buch Die Evolution der menschlichen Ernährung fest, dass in der Ahnenlinie des Homo sapiens nicht eine einzige Spezies zu finden ist, die sich nicht auf ihre bestimmte, eigene Weise eine hinreichende Zuckerquelle erschlossen hätte.


Was aber tut man, wenn der Mensch sich seinen Zucker gar nicht mehr erkämpfen muss? Die eigentliche Gefahr des Zuckers rührt her von einer ungünstigen Kombination für sich wenig gefährlicher Entwicklungen. Die Lebensmittelindustrie spielt dabei zwar eine wichtige Rolle, aber bestimmt nicht die einzige.

Sicher existiert in den heutigen Indus­trieländern ein Überfluss des Angebots: Waren süße Speisen wie Kuchen, Marmeladen oder Desserts noch vor wenigen Jahrzehnten eine Besonderheit, die man sich noch seltener für teures Geld leistete, als dass man sie selbst machte, holt man das alles – und noch viel mehr – dieser Tage günstig aus dem Discounterregal. Was nicht nur heißt, dass man ständig Süßes essen kann und dem Erlebnis selbst gar keine Besonderheit mehr zuschreibt. Es bedeutet auch, dass man den Zucker als Zutat gar nicht mehr sieht, weil man ihn ja nicht selbst hinzufügt.

Fast der gesamte Zucker, den Menschen in Industrieländern heute konsumieren, ist mittlerweile versteckt. Dazu, dass so wahnsinnig viel Zucker in manchen Produkten verborgen ist, führte aber weder die verlorene Lust am Kochen und Backen, noch die Profitgier der Industrie allein: Die Ernährungsforschung selbst hat ihren Teil dazu beigetragen. Sie verteufelte das Fett und ebnete so einer Flut von fettreduzierten Produkten den Weg, deren Geschmack oft nur mithilfe einer Extradosis Zucker gerettet werden konnte. Auf diese Weise wurde der Widerspruch von Gesundheitscredo und Fehlernährung auf den Tellern heimisch. Gesüßte Fruchtjoghurts sind ein gutes Beispiel dafür, wie 0,1 Prozent Fett die Kalorienzahl in die Höhe treiben können.

Und dann sind da die Kinder. Es ist kein Geheimnis, dass sie als Zielgruppe moderner Marketingstrategien nicht nur zu Ostern und an Weihnachten ganz bewusst durch Süßes gelockt und manipuliert werden. Lassen Eltern diese Manipulation zu, und sei es, weil sie tatsächlich glauben, dass Milchschnitte und Kinderschokolade hilfreich für die Entwicklung ihrer Kleinen sind, hat das in vielen Fällen sicher Folgen für Zähne und Gewicht.


Die wahrlich fatale Entwicklung aber hat mit der Verteufelung des Zuckers erst begonnen: Anstelle der Einsicht, dass das Besondere und Beglückende des Zuckers im besonderen Anlass und der besonderen Aufmerksamkeit liegt, suchte und fand man Ersatzstoffe, die heute ein weit größeres, unberechenbares Problem in der Ernährung darstellen. Allein deshalb, weil die entsprechenden Produkte „ohne Kristallzucker“ entweder eine Illusion des korrekten Konsums beschwören, oder „zuckerfrei“ gleich den ganzen Schritt ins Reich der Synthetik machen.

Der harmloseste Selbstbetrug ist dabei noch, wenn vermeintliche Experten in Online-Videos (stern.de) mit einer jungen Mutter Kindergetränke „ohne Zucker“ herstellen und dabei fröhlich Honig in den Mixer schaufeln – der letztlich nichts als Zucker ist, angereichert mit ein paar Spuren Natur.

Richtig übel wird es aber schon beim sogenannten Fruchtzucker. Der ersetzt inzwischen in einer wachsenden Zahl von Produkten den vermeintlich bösen Kristallzucker, was sich vor allem in der Werbung gut macht. Tatsächlich aber ist er noch viel problematischer. Gewonnen wird er ja nur selten aus Früchten, denn Obst enthält gar nicht so viel Fruktose. In reiner Form gehört „Fruchtzucker“ vielmehr zu den billigen Abfallprodukten des monokulturellen Massen-Maisanbaus. Er schmeckt deutlich süßer als Kristallzucker und wird im menschlichen Körper in dieser Konzentration am normalen Zuckerstoffwechsel vorbeigeschleust – geradewegs in die Fettpolster, die man doch eigentlich zu vermeiden gedenkt. Und weil Fruktose ohne die Beteiligung von Insulin verarbeitet wird, befördert es sogar die Entstehung von Diabetes.

Ersatzstoffe machen nicht dick, aber Appetit

Auf den ersten Blick erträglich erscheinen da noch die synthetischen Süßungsmittel von Saccharin über Aspartam bis hin zu Cyclamat, oder die aus der Stevia­pflanze extrahierte Substanz Rebaudiosid A, weil sie selbst auf jeden Fall nicht dick machen und nur vielleicht Krebs. Wobei letzteres in allen Fällen zwar gezeigt wurde, aber immer nur für Dosierungen, die angeblich kein Mensch zu sich nimmt, jedenfalls nicht über kürzere Zeiträume.

Nur mit dem Appetit, den diese Zuckertäuschungen nicht nur als Futterzusatz in der Schweinemast auslösen, muss der Willige dann noch irgendwie fertig werden. Ist es Verzweiflung oder Verblendung, dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung den Einsatz von Süßstoffen wahrhaftig als probates Mittel im Kampf gegen ernährungsbedingte Krankheiten und Übergewicht empfiehlt?

Dabei quält sich völlig unnötig, wer Zucker gänzlich meidet – und lebt sehr wahrscheinlich sogar ungesünder als alle, die sich den Genuss erlauben. Empfehlenswert erscheint allein der bewusste Umgang mit dem süßen Nahrungsmittel Zucker, das von allein gewiss nichts Böses bringt. Weder zu Ostern noch zu irgendeiner anderen Zeit im Jahr.

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