Tod und Tanz

Kino Robin Campillo verfilmt in „120 BPM“ die Arbeit von französischen Aids-Aktivisten
Ausgabe 48/2017

Niemand in 120 BPM hat für irgendetwas Zeit. Im Auditorium schnipsen die Zuhörer, statt zu applaudieren, denn das würde die Redenden nur unnötig unterbrechen. Wer sich bei seiner Ansprache zu viel Zeit lässt, wird mit einem Handzeichen abgewürgt. Die Kamera springt wie angestochen von Szene zu Szene, ein Staccato dominiert die Tonebene.

Die Hast ist weder formale Spielerei noch mahnender Kommentar zur schnelllebigen Zeit. Der Zeitmangel hat vielmehr existenzielle Gründe: Robin Campillo, Autor des Dramas Die Klasse, das vor neun Jahren die Goldene Palme in Cannes gewann, hat mit 120 BPM einen Film über die Aktivisten von ACT UP Paris gedreht. Die „AIDS Coalition to Unleash Power“, gegründet vor 30 Jahren in New York City, versucht mit gewaltfreien Aktionen in die Massenmedien zu kommen, um über HIV und Aids aufzuklären und politischen Druck auszuüben.Der Pariser Ableger ist seit 1989 aktiv, legte sich mit Pharmakonzernen an, stülpte 1993 ein riesiges rosa Kondom über den Obelisken auf der Place de la Concorde.

Die Gruppe ist der Hauptdarsteller des Films, die Liebesgeschichten und Konflikte der Mitglieder, vor allem aber ihre Debatten und Aktionen gegen staatlich gestützte Ignoranz und Homophobie. Der Forschungsstand mag heute ein anderer sein, das grundlegende Problem ist ein zeitloses: Unwissenheit, Stigmatisierung gegenüber HIV-Positiven sowie die wirtschaftlichen Eigeninteressen der Pharmalobby, die immer wieder enttäuschte Hoffnung auf ein Heilmittel.

In 120 BPM markieren ein Overheadprojektor, ein Gameboy der ersten Generation, ein Faxgerät beiläufig die frühen 90er Jahre, sonst verzichtet Campillo auf eine Retroshow, konzentriert sich auf den andauernden Kampf seiner Protagonisten. Dieser Blick für das Wesentliche hat ihm beim letzten Festival in Cannes den Grand Prix eingebracht. Wir sehen gewissermaßen die fiktionalisierte französische Variante des Dokumentarfilms How to Survive a Plague des Journalisten David France von 2012, der sich mit der Keimzelle von ACT UP in den USA befasst. Campillo, früher selbst im Kampf für LGBTIQ-Rechte aktiv, betrachtet die französische Gruppe aus der Innenansicht, durchaus selbstkritisch.

Galgenhumor regiert

Zu Beginn nimmt die Kamera die Perspektive eines Neulings bei der Begrüßungsansprache ein. Zielsetzung und Regeln der Gruppe werden erklärt, bevor das eigentliche Treffen beginnt. Der Tod eines ehemaligen Mitglieds wird beinahe routiniert verkündet, dann der Einstieg in die erste hitzige Diskussion. Eine Protestaktion verlief nicht nach Absprache: Der Redner eines Pharmaunternehmens wurde mit Theaterblut besudelt, an die Bühne gekettet. Anführerin Sophie (Adèle Haenel) findet solche Aktionen kontraproduktiv. Der Streit etabliert schon in den ersten Minuten die verschiedenen Lager innerhalb von ACT UP: Gilt es, lieber mehr zu reden oder aggressiver vorzugehen? Ist jede Publicity gute Publicity? Solche Gespräche haben in 120 BPM viel Raum.

Gründungsmitglied Sean (Nahuel Pérez Biscayart) schaut einmal nachdenklich aus dem Fenster, redet versonnen darüber, seit seiner Diagnose alle Farben viel lebhafter wahrzunehmen – dann bricht er in Gelächter aus. Nichts habe sich verändert. In 120 BPM regiert der Galgenhumor, an HIV und Aids gibt es nichts zu beschönigen. Der Film zeigt schnelle Tode, aber auch den quälend langsamen Verfall, fühlt der ständigen Angst ob des unvorhersehbaren Krankheitsverlaufs nach, dem Stochern im Nebel in den frühen Jahren der Epidemie. 120 BPM kennt auch das Gefühl, unter einer Glasglocke zu stecken, die einen von jeder Ausgelassenheit trennt, wenn ein Angehöriger erkrankt.

Campillo hat mit kitschigen Kalendersprüchen nichts am Hut, er wattiert Tabuthemen nicht mit ästhetischem Fluff oder durch geschmackvolles Weglassen. Aber er verleiht dem Film eine sinnliche Komponente. Sexszenen sind kunstvoll ausgeleuchtet, Haut und kontraktierende Muskeln im Halbdunkel. Rhythmischer Atem, das Knistern beim Auspacken eines Kondoms. In diesen Momenten reduziert er Individuen auf das Wesentliche, auf ihre Körperlichkeit. Wie im Titel des Films: 120 battements par minute, also 120 Schläge pro Minute, vollführt ein menschliches Herz im Durchschnitt, völlig unabhängig von der sexuellen Orientierung.

Die Zahl gibt zugleich den Rhythmus, das Tempo des Films vor, ein unaufhörliches Streben. Wiederkehrende Clubszenen treiben den Puls hoch, die Kamera nimmt dann die in der Luft schwebenden Staubkörnchen in den Fokus. Vom Scheinwerferlicht beschienen könnten sie genauso gut Glitzerpartikel sein, vielleicht auch Tröpfchen, Viren. Die Clubszenen fließen im Schnitt mit Momenten intimer Zweisamkeit zusammen, mit den Diskussionen im Plenum, mit der nächsten Gay Pride, der nächsten Totenwache, der nächsten Demonstration. Alles ist miteinander verbunden. Das Leben den eigenen Wünschen entsprechend zu leben, zu tanzen, sich zu küssen wird bei öffentlich Geouteten zum politischen Statement, zum indirekten Aktivismus. Immer gibt es einen Grund zum Feiern und einen zum Trauern.

Robin Campillo findet in 120 BPM Wege, damit umzugehen, die in der Realität versagt bleiben. Filmisch setzt er eine Aktion von ACT UP in die Tat um, die es nie über die Planungsphase hinaus schaffte. Eines Morgens offenbart die Dämmerung die blutrot verfärbte Seine.

Info

120 BPM Robin Campillo F 2017, 140 Min.

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