Was heute schräg ist, kann morgen gut sein

Musik Die Leipziger Jazztage sind offen für neue Wege und finden auch nach ihrem Ende noch statt
Ausgabe 42/2019

Zukunftsmusik sei solche, die, „wenn sie jetzt auch schlecht klänge, mit der Zeit sich doch gut ausnehmen würde“. So definierten Musikkritiker den Begriff im 19. Jahrhundert und meinten damit Kompositionen von Wagner, Chopin und Liszt. Wie sich Zukunftsmusik heute anhört, zeigen die 43. Leipziger Jazztage vom 10. bis 19. Oktober an knapp zwanzig Veranstaltungsorten; von Kleinkunstbühne über Kirche bis Oper. Zukunft heißt hier: Experimentieren, nach Neuem suchen, für alles offen sein. Ob funky-soulige Grooves von Jazzanova, elektronisch-eckiges Knarzen von Mouse On Mars, orchestrale Klangflächen vom Andromeda Mega Express Orchestra, verträumte Improvisationen vom Maciej Obara Quartet oder altbekannte Gitarrenorgien von John McLaughlin – hier wird eine große Spannbreite aufgemacht. Das kommt bei dem heterogenen Publikum gut an: Dreadlocks und graue Mähnen mischen sich in den sehr gut besuchten Konzerten, Filmen und Diskussionsrunden. Und das trotz des stolzen Preises: 185 Euro für das gesamte Festivalticket beziehungsweise 24 Euro für ein Einzelticket. Zu hören sind neben Bekanntem wie Sun Ra Arkestra, Samuel Rohrer oder Erika Stucky auch Neuentdeckungen wie das mit dem Jazznachwuchspreis ausgezeichnete Trio Heuken / Stadtfeld / Heigenhuber.

Sogar eine Auftragskomposition anlässlich des 30. Jubiläums der friedlichen Revolution erklingt: Inseparable. Unteilbar. Der Jazzschlagzeuger John Hollenbeck schrieb es für die Leipziger Bigband Spielvereinigung Sued und den MDR Rundfunkchor auf ein Libretto der Lyrikerin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Nora Gomringer, die in mehrsprachigen Wortfetzen skizziert, warum Europa heute genauso zusammengehört wie das bis 1989 geteilte Deutschland. An die DDR-Zeit können sich die Festivalmacher noch aus eigener Perspektive erinnern: Ein Freundeskreis von Jazzmusikern gründete das Festival in Leipzig im Jahr 1976, etablierte es allen Widrigkeiten zum Trotz über die Jahrzehnte zu einer festen Größe in der deutschen Jazzlandschaft und ließ Leipzig neben Berlin und Köln zur dritten Jazzmetropole heranwachsen. In den bisher 43 Jahren holte das Festival Highlights wie Pat Metheny, Matthew Herbert, Ketil Bjørnstad, Dave Holland und Sophie Hunger nach Sachsen.

Warten auf Herbie Hancock

Das Highlight der diesjährigen Leipziger Jazztage wird nachgereicht: Ende November spielt der Tastenvirtuose Herbie Hancock in der Kongresshalle am Zoo. Die Organisatoren, der Jazzclub Leipzig e. V. rund um den künstlerischen Leiter des Festivals Stefan Heilig, wollten Hancock unbedingt buchen. Ein anderer Termin war nicht zu finden, also wurde sein Konzert ganz nach dem Motto des Festivals einfach in die Zukunft verlegt. Immerhin ist der Jazzpianist seit den 1960ern seiner Zeit musikalisch immer um Jahre voraus, der perfekte Zukunftsmusiker eben. Er erfand Techno fünfzehn Jahre bevor es ihn gab, legte die Grundsteine für Electric-Jazz und Fusion-Jazz und bekannte sich als erster Jazzer überhaupt zum „scratchenden“ Hip-Hop. Herbie Hancock ist Sinnbild dafür, was den Jazz ausmacht: seine Offenheit, stetige Weiterentwicklung und Streben ins Morgen. Für den einen hört sich das im Heute schräg an, für den anderen ist es eine wahrhafte musikalische Offenbarung der Zukunft. Wer hat recht? Die anderen.

Katrin Haase ist Musikjournalistin in Leipzig und Gründerin des Magazins WORK IN PROCESS

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