Schöpfungslegenden sprechen oft mit gespaltener Zunge, als wollten sie sich selbst widerlegen. Die christliche zum Beispiel gibt es von vorneherein in zwei Versionen. Die Genesis erzählt einerseits von sechs Tagen harter Arbeit und von Frau und Mann als Schluss- wie Höhepunkt dieses Werks; und behauptet andererseits, Gott habe Adam und Eva zeitgleich mit Himmel und Erde geschaffen und diese beiden „Menschen“ in ein Gärtchen namens Paradies gepflanzt, aus dem er sie jedoch bald wieder herausrupfte.
Als Motto seines neuen Romans Wenn das Schlachten vorbei ist dient dem amerikanischen Schriftsteller T. C. Boyle ein Abschnitt aus der ersten Geschichte, ein Zitat vom sechsten Tag: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und
nd mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ Doch der Roman handelt im selben Maße von jener anderen Legende, von der Vertreibung aus dem Paradies, das seither als Sehnsuchtsort definiert ist: unberührte Natur, reines Dasein, Jungfräulichkeit des Bewusstseins, das richtige Leben in der richtigen Welt.Wenn man denn nur wüsste, wie die richtige Welt auszusehen hätte. Boyle schickt Alma und Dave ins Rennen – sie: Akademikerin, die sich für Rückbau der Schäden engagiert, die der Homo sapiens angerichtet hat; er: vermögender Self-Made-Man, den die Achtung vor der Kreatur (womit allererst die Tiere und weniger die Menschen gemeint sind) so arg umtreibt, dass er seinen weltschmerzenden Zorn nur noch mit Tabletten zu zügeln weiß. Zwei Menschen, zwei Ideale – zwei paradiesische Inseln vor der Küste Kaliforniens: Sowohl Alma als auch Dave kämpfen um die Unberührtheit von Anacapa und Santa Cruz, doch ihre Anstrengungen sind einander diametral entgegengerichtet. Die Biologin Alma steht im Dienst des Staats und verantwortet die Vernichtung der gesamten Rattenpopulation auf Anacapa und der gesamten Wildschweinpopulation auf Santa Cruz, weil die „invasiven Spezies“ die Artenvielfalt der jeweiligen Insel vernichten.Dave dagegen ist Gründer der Tierschutz-Organisation „For the Protection of Animals (FPA)“. Wo Alma hinkommt, wartet er bereits auf sie. Er stört ihre Vorträge und füttert die Ratten auf Anacapa mit Vitamin K, kurz bevor der Hubschrauber das tödliche Gift verstreut – damit sie den Angriff auf ihr Leben hoffentlich überstehen. Am Willen zur Macht mangelt es jedenfalls keinem von beiden, an überzeugenden Argumenten noch weniger. „Welche Welt wollen Sie wiederherstellen? Die von vor hundert Jahren? Tausend? Zehntausend? Warum nicht gleich ein Zwergmammut klonen und auf der Insel aussetzen, wie in Jurassic Park?“, keift Dave während einer Informationsveranstaltung in Almas Gesicht, als sie gerade all die Tiere mit den Vielfalt verheißenden, wundervoll klingenden Namen vorstellt, die vom Aussterben bedroht sind, weil Ratten und Schweine sich an ihnen satt fressen.Wie viel von wem?Die Frage nach der Natürlichkeit der Natur und der Menschlichkeit des Menschen stellt T. C. Boyle sich und seinen Lesern nicht zum ersten Mal. Viele seiner zahlreichen Short Storys erkunden jene Differenz, die am Ursprung der Kultur steht und sich deshalb in jede Schöpfungslegende eingeschrieben hat: Wie viel Natur steckt im Menschen und wie viel Mensch in dem, was wir Natur nennen? Erst vor zwei Jahren erschien auf Deutsch Boyles Erzählung Das wilde Kind über Victor von Aveyron, neben dem deutschen Kaspar Hauser das wohl berühmteste „Wolfskind“, das seine Ankunft in der Zivilisation zwar länger, aber kaum glücklicher überlebte. Auch der Umweltschutz stand schon einmal im Zentrum eines seiner Romane, allerdings ist das schon über zehn Jahre her. Ungewöhnlich genug für Boyle, der gerne historische Gestalten der (Pop-)Kultur wie etwa den Sexualforscher Alfred Kinsey (Dr. Sex, 2005) oder den Architekten Frank Lloyd Wright (Die Frauen, 2009) mit seinem hervorragenden stilistischen Talent bedenkt, wagte Ein Freund der Erde (2000) einen Blick ins Jahr 2025, auf eine düstere Welt, in der die meisten Tierarten als ausgestorben gelten müssen und das übrige Leben nicht viel lebendiger wirkt. Womöglich könnte man diesen Roman im Nachhinein als Fortsetzung von Wenn das Schlachten vorbei ist begreifen. Alma, deren Name die ursprüngliche Dopplung erneut zitiert, da „alma mater“ sowohl die körperlich als auch die geistig nährende Mutter meint, hätte also verloren.Allein, das hat sie nicht, wie ein kurzer Blick auf die Realität erweist. Wenn das Schlachten vorbei ist kann nämlich nicht als ein weiterer, es wäre tatsächlich erst der zweite, Science-Fiction-Roman in T.C. Boyles Werk eingeordnet werden, sondern muss in eine Reihe mit seinen Tatsachen-Fiktionen gestellt werden. Was wie Zukunftsmusik daherkommt, wie eine Parabel auf die unmöglichen Entscheidungen, die der Menschheit noch bevorstehen, ist, wie man so sagt, eine wahre Geschichte.In den Jahren 2001 und 2002 wurden auf der gegenüber von St. Barbara gelegenen Insel Anacapa die non-nativen Ratten ausgerottet, und 2006 verkündete man den erfolgreichen Abschluss der Massenerschießungen von Wildschweinen auf der benachbarten Insel Santa Cruz. Welche Welt will man damit wiederherstellen? Die von vor hundert Jahren? Tausend? Zehntausend? Warum nicht gleich ein Zwergmammut klonen und auf der Insel aussetzen, wie in Jurassic Park? Das kann man sich angesichts solcher Unternehmungen fragen.Alma und ihr Freund Tim, der am Ende ihr Ex-Freund sein wird, Dave und seine Freundin Anise sowie das übrige Personal von Wenn das Schlachten vorbei ist sind T.C. Boyles literarische Zugaben zu den historischen Fakten. Sie justieren nicht nur die unterschiedlichen Blickwinkel, sondern dienen auch der Ausstellung dieses Perspektivischen, das der Autor mit spielerischer Leichtigkeit beherrscht. Sie stellen im besten Sinne Personalisierungen des Problems dar: Anise ist auf Santa Cruz aufgewachsen, da ihre Mutter sich als Köchin der Insel-Schäfer verdingte. Ähnlich eng ist Almas Familiengeschichte mit der Insel Anacapa verknüpft, weil ihre Großmutter nach einem Schiffbruch dort Zuflucht fand und Alma nie geboren worden wäre, wenn Beverly Boyd – die Zeit ihres Lebens eine Menge schaurige Geschichten über Anacapas Ratten zu erzählen wusste –, sich nicht mit eisernem Willen an eine Kühlbox geklammert hätte. Dass sie damals schwanger war, ahnte sie nicht. Die Parallele zu den Ratten, die einst auf exakt dieselbe Art und Weise, auf Trümmern eines Schiffs und gesegnet mit übermenschlicher Ausdauer, nach Anacapa kamen, reicht perfide bis ins Detail, wenn von den Auswirkungen der Schiffsbrüchigen auf die Fauna der Insel die Rede ist: „Natürlich hätte schon ein Pärchen gereicht. Oder auch nur ein trächtiges Weibchen.“Paradiesische ZuständeDoch dem nicht genug. Almas Vater, der, wie alle Männer dieses Romans, das Meer nicht lange überlebt, war japanischer Abstammung. Was ihre Gegner ganz besonders gerne gegen sie verwenden; nicht nur einmal wird ihr Auto im Namen des Tierschutzes mit rassistischen Parolen beschmiert. Der Verdacht fällt schnell auf Dave, denn dem liegen dererlei Diskriminierungen ganz besonders locker auf der Zunge. Alma steht ihm allerdings nur wenig nach und schimpft ihn einen „Parasiten“.Mit solch metaphorischer Dichte – spätestens hier muss man den so erfahrenen wie empathischen Übersetzer Dirk van Gunsteren erwähnen – und vor allem dramatischer Unerbittlichkeit läuft die Geschichte unaufhaltbar auf ihr Ende zu. Doch zuvor hält T.C. Boyle sowohl für Alma als auch für Dave noch je ganz eigene private Prüfungen parat, die nicht nur deren Ideale auf den Kopf stellen. Sondern ein weiteres Mal die provokante Frage aufwerfen, warum man eigentlich den Menschen, diese zweifellos schlimmste aller invasiven Arten, nicht ausrotten sollte, wo der gesellschaftliche Diskurs doch längst dieselbe biologistische Sprache spricht. Wenn dieses Schlachten vorbei ist, herrschten vielleicht auch endlich wieder paradiesische Zustände auf Erden.
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