Uff Wo Brüste wie Zitronen stehen, wird die Suche nach der perfekten Schrift ein quälendes Unterfangen: Ulf Erdmann Zieglers neuer Roman "Nichts Weißes"
Schon Anfang des 13. Jahrhunderts forderte Franziskus von Assisi, das Evangelium „sine glossa“ zu lesen: ohne Zusätze, ohne Kommentare, ohne Veränderungen. Das war zwar ganz anders gemeint als Martin Luthers spätere Parole „sola scriptura“ (allein die Schrift); eine Sehnsucht nach einer vermeintlich ursprünglichen Reinheit kann man jedoch hier wie dort als Reaktion auf das Aufkommen neuer Medientechniken vernehmen. Der Erfolg von Luthers neuem Glauben verdankt sich schließlich nicht zuletzt dem Buchdruck.
Eine pure Schrift, eine „Schrift ohne Stil“, eine „Schrift ohne Signatur, bereinigt von den Resten der in Stein gehauenen Sprache“, eine „Schrift, die alles konnte, aber letztlich unsichtbar blieb“, eine A
0;, eine Art Ur- oder absolute Schrift also, stellt auch das Ideal der Hauptfigur in Ulf Erdmann Zieglers zweitem Roman Nichts Weißes dar. Dass es dem Autor in der Geschichte der Typografin Marleen Schuller um die Religion geht, entdeckt man schnell, denn die gekrümmte Haltung der – mehr empfindenden denn handelnden – Personen bezeugt die namentliche Last, die Ziegler ihnen aufbürdet.Marleen ist die Kurzform für Maria Magdalena, jener Gefährtin Jesu, die dem Auferstandenen als erste begegnet; Marleens Vater heißt Petrus (der Fels, auf dem ich meine Kirche bauen will), die große Liebe trägt den Namen Franziskus, und durch Marleens Kindheit im paradiesischen „Pomona“ purzelt nicht nur ein Apfel. Die Handlung umfasst die siebziger und achtziger Jahre, die sich ähnlich mit Markennamen zur Schau stellen. Als wäre mit „Citroëns und Super 8, Mikrowelle und Whirlpool, Donna Summer und Fred Feuerstein“ bereits genug über den Zeitgeist gesagt. Gleiches gilt für den Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten, der in diesem Rahmen durchaus Sinn machen würde: Er wird gern herbeizitiert, steht dann aber ziemlich ungelenk in der Gegend herum.Alberne VerschlüsselungenAuch zuckt Ziegler vor der konkreten Einschreibung seiner Ideenwelt zurück. Gerade die Verweise auf die Realien des Buchstaben-Geschäfts verschleiert er auf denkbar banale Weise: Marleen macht erst ein Praktikum in einer Druckerei in Nördlingen, die eine Reihe namens „Eigene Bibliothek“ herausgibt (vgl. Franz Greno und dessen Andere Bibliothek), anschließend studiert sie Visuelle Kommunikation in Kassel und erweist sich erwartungsgemäß als Naturtalent, jedoch behagt ihr die intellektuell-elitäre Atmosphäre nicht. Sie bricht ihr Studium ab, um in Paris für den Schweizer Gestalter Titus Passeraub (vgl. den Schweizer Gestalter Adrian Frutiger) zu arbeiten und in New York das Unternehmen IOM, kurz für International Office Machines, (vgl. IBM, kurz für International Business Machines) in Sachen Schrift-Software zu beraten.Wie die wiederholten, kaum nachvollziehbaren Wechsel zwischen Präteritum und Präsens will diese Verfremdung zur Kenntlichkeit womöglich als weiterer Zaunpfahlwink der ewigen Abwesenheit des Wirklichen in der Schrift verstanden werden. Die Wirkung ist jedoch eine andere: Man ist bloß froh, dass der Herausgeber der anderen Anderen aka Eigenen Bibliothek nicht namentlich genannt wird, denn eine Verballhornung von „Hans Magnus Enzensberger“ in einem Roman, der dem Buchdruck auf seinem Weg ins 21. Jahrhundert folgen möchte, wäre vermutlich nurmehr schwer zu ertragen.Auch der Charme der offenkundig hart erarbeiteten Lakonie und die ans Novellistische gemahnenden Episoden aus Marleens Gegenwart und familiärer Vergangenheit verpuffen schnell. Details, Metaphern und erzählerische Schlenker werden pathosschwanger intoniert, entpuppen sich aber nicht selten als folgen- und bedeutungslos. In den Passagen über Marleen und Franziskus liegt der Kitsch entsprechend nah: „Manchmal hört sie, was er sagt, versteht es aber nicht, weil sie abgelenkt ist vom Licht in seinen Augen.“ „Die Grübelei von Franz ist ein bisschen anstrengend“, doch immerhin ist er „der erste Mann, der ihr wirklich zuhört“, obwohl er „zwei Dutzend Bücher mit furchteinflößenden Titeln“ besitzt (zum Beispiel, oho, Klaus Theweleits Männerphantasien).Nomen est omen„Sie könnte ihn jetzt fragen, wo er herkommt, aber genauso gut könnte sie ihm sagen, wie sehr sein dunkles Haar ihr gefällt. Tut sie aber nicht.“ Was sie dagegen tut: Sie erinnert „den Oliventon seiner Haut, seine schmalen Hände, die Hüftknochen wie ein handgeschnitzter Rahmen um die Instrumente der Empfindung“, und wie er ihr „die Schwärze ihrer Furcht weggetupft“ hat und „was sie begonnen hat zu werden, mit Franz, neben ihm, durch ihn, für ihn“.Nachdem er mit Marleen ein Kind gezeugt hat, entscheidet sich Franz (wie Petrus) für die typisch christliche Rolle des metaphysisch-abwesenden Vaters, indem er, nomen est omen, in einen Orden eintritt (während Petrus schon 1974 zu den Sannyasin übergelaufen war), jedoch (wie Petrus) am Mönchstum scheitert. Am Ende träumt Marleen noch einmal von den Männern ihres Lebens: „Als sie erwachte, standen ihre Brüste wie Zitronen.“ Nicht nur böse Zungen könnten behaupten, in Nichts Weißes wäre die Befreiung der Buchstaben von Sinn und Bedeutung wahrlich eindrucksvoll geglückt. Sine glossa, sola scriptura.
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