Auf den Spuren der Struktur von Erinnerung und Gedächtnis entdeckte Sigmund Freud Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts "ein kleines Gerät ..., das mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die Schiefertafel." Gemeint war der so genannte Wunderblock, später auch unter dem Namen "Zaubertafel" bekannt: Was man mit einem Plastikstift darauf zeichnet, lässt sich mit einem einfachen Schieber wieder löschen. Freud schien es eine halbwegs treffliche Metapher für das Gedächtnis, weil die Spuren wenigstens aus dem wächsernen Untergrund nie ganz verschwinden. Allzu weit trügen die Analogien allerdings nicht, wandte er ein, "der Wunderblock kann ja auch nicht die einmal verlöschte Schrift von innen her wieder ´reproduzieren´; es wäre wirklich ein Wunderblock, wenn er das wie unser Gedächtnis vollbringen könnte."
Mittlerweile gibt es ein nicht ganz so kleines Gerät, das tatsächlich mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die Schiefertafel, ein wirklicher Wunderblock eben: Längst ist der Computer - und in seiner Folge das World Wide Web - zu schlechthin der Metapher des Gedächtnisses avanciert. Es verwundert im Grunde, dass es so lange gedauert hat, bis jemand ähnlich freudig wie Freud entdeckte, dass die Hardware längst bereit steht, um die Rhetorik zurück in die Realität zu wenden. einestages.de heißt das Projekt, es ist laut Selbstbeschreibung "das neue Zeitgeschichte(n)-Portal von ´Spiegel-Online´. Hier können Sie Geschichte sehen, Geschichte lesen - und Geschichte schreiben. Denn ´einestages´ macht Sie, die Leser zu Partnern in einem neuen und einmaligen Projekt: dem Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses unserer Geschichte."
Vor einem Vierteljahr, am 8. Oktober, startete das "Community-Portal", das gewichtige Partner wie das Bundesarchiv, den Progress-Filmverleih oder die Stiftung Preußischer Kulturbesitz an seiner Seite weiß. Dass es bislang eher an ein willkürliches Potpourri als an ein "kollektives Gedächtnis" (wie auch immer man sich das vorzustellen hat) erinnert, kann man ihm kaum zum Vorwurf machen: Damit sich Knoten und Stränge bilden, die das Netz auch halten lassen, braucht es deutlich mehr Inhalte, und so etwas dauert seine Zeit. Ganz zu schweigen davon, dass eine annähernde Vollständigkeit niemals erreicht werden wird, da der Begriff der Zeitgeschichte nicht definiert werden will: "Bei ´einestages´ beginnt und endet die Zeitgeschichte nicht mit fixen Daten. Von den ersten schwarz-weißen Fotos aus dem vorletzten Jahrhundert bis zum Zeitzeugenbericht aus der Jetztzeit - für ´einestages´ ist beides Zeitgeschichte", antwortet einestages.de auf die Frage "Was ist Zeitgeschichte?". Weil die Politik - der übliche Lieblingsgegenstand der Historienmalerei - nicht im Vordergrund steht, nennt man das 20. Jahrhundert auch nicht katastrophal, sondern einfach "turbulent".
So lange die Inhalte sich also noch nicht selbst organisieren, bleibt die kollektive Erinnerung punktuell - und liefert der einestages.de-Redaktion Artikel, Struktur und Ideen zu; "Themen", "Zeitzeugen" und "Fundbüro" heißen die drei Kategorien, die nicht allzu streng gehandhabt werden. Hier herrscht ein fröhliches Durcheinander, überraschend ist dagegen die stilistische wie intellektuelle Ödnis. Die meisten Texte erschöpfen sich in Faktenreihen, von Interpretation oder Reflexion kaum eine Spur. Nicht einmal Gefühligkeit mag man ihnen vorwerfen, die individuelle Betroffenheit findet sichtlich keine Sprache, und für Emotions-Propaganda haben die meisten Autoren schlichtweg zu wenig Talent. Einen Web-2.0-Knopp sucht man bei "einestages.de" vergeblich - ganz zum Trotz, dass die Nazis oft genug vorkommen.
Was man außerdem erfährt: Im "kollektiven Gedächtnis" spielen internationale Ereignisse anscheinend nur eine Rolle, wenn es sich um Weltmeisterschaften oder -kriege handelt, ansonsten bleiben die Deutschen meist brav unter sich. Das eine mag mit dem anderen zusammenhängen: Wo das kollektive Gedächtnis reiner Selbstzweck ist und weiter nicht begründet wird, fehlt der Anschluss an die Gegenwart. All die Artikel rekonstruieren eine Vergangenheit - oder üben sich zumindest darin -, die keinerlei Einfluss auf das Jetzt zu haben scheint und das auch keineswegs vermisst. Was hier ans Licht geholt werden soll mit all seinen Angeboten zur Identifikation ist das kollektive Unbewusste, das noch nie bekannt war für Gegenwartsbezug oder Interesse am Rest der Welt, sondern im Gegenteil immer gerne und sofort bereit, sich in den Dienst der Nation zu stellen.
Doch all das will und kann man einestages.de nicht vorwerfen. Das Portal ist nichts anderes als die konsequente und elegante Folge der Verschiebungen im Wissensdiskurs, die die so genannten neuen Medien initiiert haben. Einestages.de schließt - was sehr schlau ist - die zeitgenössische Vergangenheitsunsicherheit und die daraus folgende Geschichtshysterie des Einzelnen und dessen Lust an der Inszenierung seiner Subjektivität einfach kurz - und (fast) fertig ist das "kollektive Gedächtnis", das gerade wegen dieses wunderbaren Kurzschlusses verspricht, ein Erfolg zu werden: In den Faktenreihen und dem teils recht kruden Spezialistentum der Beiträger steckt womöglich mehr Wahrheit über unsere Programmierung, als uns lieb sein dürfte.
Zudem an allem, was da schief laufen könnte - von vernachlässigten Themen über falsche Fakten bis hin zu zweifelhaften Aussagen - weniger die einestages.de-Redakteure schuld sind als vielmehr wir. Schließlich sind das eben keine Inhalte der "System"- oder "Mainstream"-Medien, sondern unsere "Themen", unsere "Zeitzeugen" und unser "Fundbüro". Dass die Debatte auf einestages.de noch nicht recht in Gang kommen will, liegt wohl daran, dass es an den einzelnen Texten wenig zu diskutieren gibt, da das Portal eben nicht die Deutungshoheit über die Geschichte demokratisiert - eine Deutung findet, wie gesagt, nicht statt -, sondern nur den Zugang zur öffentlich abgesegneten Plauderei über Jahreszahlen und Produkte. Ob einestages.de eines Tages die Betaversion überwindet, muss man also abwarten: Es wäre wirklich ein Wunderblock, wenn er das wie unser Gedächtnis vollbringen könnte.
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