30 tage ohne oben (2)

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Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 28 Tagen erst wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Auch dieser Tag beginnt erst in der Straßenbahn. Zuvor nur in unersprießliche Selbstgespräche verwickelt, begegne ich bewegt den Bürgerinnen und Bürgern meiner Stadt, die wie ihre Schwestern und Brüder im Land auch heute nur ein Thema haben: das Wetter. Wundert mich nicht.

"Eigentlich ist es nur ein langer Winter, der nahtlos in den Herbst übergeht", tröstet eine Fahrzeugnehmerin die andere. Schon muss ich wieder an die Mietsache Schloss Bellevue denken. So ein nahtloser Übergang ist doch geschickt, gar nicht erst Hoffnung keimen lassen. Und mich wundert nun, dass sie sich 30 Tage Zeit nehmen. Viel Zeit, die ja irgendein Spielverderber dafür nutzen könnte, öffentlich das Amt infrage zu stellen. Oder, gar nicht auszudenken, die Kandidaten.

"Haben Sie eine Kundenkarte?", fragt die Bäckersfrau, deren Sommersprossen ich aus dem Gedächtnis malen kann, die sich aber meine Kundenkartenlosigkeit nicht merken mag. Heute jedoch stört mich das nicht, denn heute bleibt mein Blick an der BILD-Schlagzeile hängen: "Wird sie die Mutter der Nation?" Auf dem Foto dazu: Ursula von der Leyen. Ja ist sie das denn nicht schon, die Mutter der Nation? Hat nicht sie das Kindleinhaben zur nationalen Aufgabe erhoben? Ich gebe spontan fünf Cent Trinkgeld, schließlich habe ich keine Kinder und will auch meinen Beitrag leisten.

Jedenfalls hat zu Guttenberg sofort reagiert, erzählt mir im Büro ein Kollege, und erwägt, die Wehrpflicht auszusetzen (Guttenberg, nicht der Kollege). Wundert mich nicht. Mit einer Frau wie von der Leyen als Bundespräsidentin braucht's ja kein Ehrenbataillon mehr oder wie diese Stewarts heißen, die bei Staatsbesuchen auf den Rollfeldern ihr Kreuz durchdrücken. Bald reicht's, wenn Kinder Blumen streuen.

Als ich gerade mögliche Musikuntermalungen in die Kaffeetasse summe, fährt mir die SPD in die Parade: Sie denken über Heide Simonis nach. Als Gegenkandidatin. Klingt nach einem Zugeständnis an die neue Furchtlosigkeit. Und Kati Witt? Hat wohl niemand auf dem Zettel? Vor Leuten reden kann die ganz bestimmt, würde das Fernsehen sie sonst immer wieder vor die Kamera holen?

"So etwas", sagt mir mein Bewusstsein, "darfst Du nicht einmal denken!"

Ich mache jetzt das Radio aus, ich habe Angst vor neuen Nachrichten, meinen Gedanken und sowieso vor dem Wetterbericht.

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer