Ferndiagnose im Nahverkehr

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Morgens, 11.55 Uhr, in Leipzig, Straßenbahn Line 15, fast Innenstadt. Sie und Er, so um die 20 Herbste alt. Die Bahn ist überfüllt.

Sie: Das nervt.
Er: ---
Sie: Früher fand ich das geil. Aber jetzt ...
Er: ---

Da bleibt Raum für Spekulationen:

Ist es das Straßenbahnfahren an sich, das das Mädchen, nennen wir es Nancy, im Vorschulalter so schwer beeindruckt hat? Und liegt der Verdruss nun darin, dass die mittlerweile junge Frau den Eindruck gewinnen muss, dass all die schrägen Typen auf den Sitzen einfach nur kein Auto haben, und dass die Freude an Beschleunigung ambivalent gerät, wenn man ohne Haltegriff in die Kurve geht?

Ist es die Beziehung der beiden, die gewissermaßen in eingefahrenen Gleisen auf unendlich eingestellt ist, und unsere Nancy würde gern demnächst aussteigen, wagt es aber noch nicht, der Aufforderung "Vor dem Aussteigen bitte Fahrgastwunsch betätigen" nachzukommen?

Oder haben die beiden gestern Abend beim Griechen Souvláki gegessen und sich an ihren ersten gemeinsamen Urlaub erinnert und daran, wie sie sich damals in der Taverne von Nikos Nikokonus des einen oder anderen Ouzo annahmen, und ein paar Drachme hat Nancy auch noch von ihren Eltern (die Franc sind allerdings schöner, vor allem der Fuffziger), nun aber wollen die Griechen nicht mal mehr abstimmen, und da muss man, muss Nancy sich natürlich fragen, wer denn dort eigentlich noch das Volk ist? Und überhaupt: Wohin fließt denn nun das Trinkgeld von gestern Abend beim Griechen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer