Wir sind nicht mehr jung, und wir lieben den Stammtisch. Das Dilemma einer Familie gescheiter Existenzen, wenn ihre Kneipe renoviert wird
"So lange Hans arbeiten kann, wird er unser Wirt sein", sagt Anita. Wir nicken. Wir sitzen in einem Biergarten, der nicht unserer ist. Trinken Weinschorle, die fremd schmeckt. Winken nach der Kellnerin, deren Namen wir nicht kennen. Es ist Sommer in Leipzig, und unsere Stammkneipe hat zu. Sie liegt im hinteren Teil einer Straße, die aus dem Zentrum heraus führt. In so einer Gegend muss doch ein Interim zu finden sein, dachten wir. Drei Lokale haben wir ausprobiert. In der Pisa Bar ist der Kellner ein Vertrauensmann, aber der Tisch zu klein. Im Felix M. sind die Stühle bequem, aber die Weine teuer. Im Sevilla sitzen oft Leute, die unser Wirt nicht bedienen würde. Vor Hans, dem Wirt, sind alle Menschen gleich. Wenn sie das anders sehen, wird er ausladend. Seine Garstigkeit ist stadtbekannt. "Kannst Du nicht woanders blöd sein" steht auf seinem T-Shirt. Oder: "Nur so, wie Sie's hier sehen." Stets weiß auf schwarz, da weiß man, was er hasst. Pärchen, die nicht schnell genug ihr Glas leeren, droht er an, sie auseinander zu setzen. Nicht jeder kann diesen Humor genießen; darum sind die, die bleiben, eine treuer Bund betreuten Trinkens. Patienten nennt er uns. Wir nennen ihn Mutter.
"Ich hab gestern mal durch die Scheibe geguckt", sagt Tom. "Wo die Uhren hingen, sieht man jetzt die ursprüngliche Farbe". Die drei Uhren schlagen für New York, Mutzschen, Tokio. Im Winter gehen sie eine Stunde nach, dann kann man länger bleiben. Wer "gestern in Mutzschen war", hat heute einen Kater. "Die Wände sind doch ziemlich isabellfarben." Tom ist Spanischlehrer. Er weiß, dass Königin Isabell von Kastilien so lange ihr Hemd nicht wechseln wollte, bis die Araber das Land verlassen hätten. Es wurden zwölf Jahre. Unsere Kneipe sind hat erst zehn, doch für den Farbton reicht's. Nun wird sie renoviert. Und darum ist es diesmal viel schlimmer. Wir werden sie nicht wiedererkennen. Das rauchdunkle Gelb wird einem Lichtgrau weichen. Wo der "Tote Kühlschrank" stand (ein Zwischenlager für Bücher, Briefe, Wohnungsschlüssel), werden schwarz-weiß-gelbe Fliesen glänzen. Viel heller wird es sein und schick. Dann passt wohl auch die Bionade zum Ambiente, deren Aufnahme in die Getränkekarte vor einem halben Jahr schon einer Revolution gleichkam. Hans garantiert eine Grundversorgung mit Bier, Wein, Schnäpsen, auch mal einem Cocktail, wenn's sein muss. Ein Jever Lemon etwa sollte lieber nicht bestellen, wer wiederkommen möchte.
Hans wird weiter hinterm Tresen stehen. Vielleicht demnächst mit Sonnenbrille wegen des Lichts. Kann sein, er trägt sein "Die Antwort ist 42"-Shirt. Wenn einer Bier bestellt, fragt er: "Nacken oder Schulter?". Denn wie eine Fleischerei soll sie aussehen, unsere Wirtschaft, das wollen die Besitzer so, das haben sie in Kreuzberg so gesehen. "Was fürn Quatsch", sagt Jürgen, unser Wochenend-Kreuzberger. Jahrelang haben er und wir Stuhl an Stuhl gesessen - er mit seinem Tagesspiegel, anderere mit dem Spiegel. Seit dann einer "Hallo sagte" und "Komm doch rüber", gehört Jürgen dazu.
Der Tisch füllt sich gestaffelt nach Feierabendzeiten. Zuerst kommt der Buchhändler. Andreas arbeitet als Pfleger in der JVA, Schichtdienst. Silke ist Köchin, Anita Geigerin. Dieter, der Schauspieler, verdient als Museumsaufsicht sein Geld. Anna ist auch Schauspielerin, unkündbar. Je näher eine Premiere rückt, umso länger werden die Abende. Dann trinken wir Wodka und predigen Zuversicht.
Sabine ist Germanistin, Konrad Maler, Volker ein Organisationstalent. Hinnerk war mal Gentechniker. Hin und wieder schauen der Physiotherapeut und der Schuldirektor vorbei. Mitunter wird es wirklich eng, und nicht immer mag man Knie an Knie debattieren.
Einige von uns kennen sich seit 20 Jahren; die meisten leben allein. Nur Andrea und Carina waren zwischendurch mal ein Paar - jetzt ist es wieder leichter. Für alle. An manchen Abenden retten wir die Welt. An den anderen uns. Und, das muss man sagen, wären Kalauer sichtbar, würden wir ab Mitternacht leuchten.
"28 Prozent der Deutschen treffen sich regelmäßig an Stammtischen", sagt Volker. Allerdings stammt die Umfrage aus dem Jahr 2005, also aus den seligen Zeiten vor dem Nichtrauchergesetz. "Nichtraucherschutzgesetz", korrigiert Carina.
Wir stammen aus anderen Zeiten. Die Wiege unserer diffusen Sehnsucht war das Café Corso. Da gab es den Künstler-Tisch, den Dozenten-Tisch, die Studenten-Tische ... Alle hinten, wo man rauchen konnte. Dort wurden Geschäfte gemacht und ein Frieden mit dem Tag. Dort bekamen rechtschreibschwache Journalistik-Studenten Nachhilfe (sie nannten es Talente-Kurs) und saßen '89 montags Fremde stumm an Zweiertischen. Dort rief Lilo auf die Beschwerde "Lilo, ich habe vor einer halben Stunde einen Wein bestellt" ungerührt: "Siehste mal, wie die Zeit vergeht." Dort war 18 Uhr Schluss, und die Karawane zog weiter ins Bachstüb'l, danach in den Pfeffermühlen-Club, wo es Einlass nur auf Klingelzeichen gab. Das Freiwillige dieser Stammtische lag auf der Hand, das Verbindliche eher im privat Subversiven. Einige dieser DDR-Bohème sind schon tot, die meisten inzwischen Rentner; die treffen sich noch in der Tradition des Jour fixe.
Wir sind um die 40 bis 60 und sehen uns täglich. Vor allem in der Vorweihnachtszeit ist die Verlässlichkeit der Gemeinschaft ein Versprechen. An diesem Stammtisch der gescheiten Existenzen trennt man sich zur Nacht im Lachen oder Weinen, das macht die Kriegsbeile stumpf. Die Parole ist: Zum Wohl! Die Politik heißt: Weiterdenken.
Noch wird unser Stammsitz renoviert. Wir sind das allabendliche Telefonieren und smsen ("Wo wird gesessen?") leid, das Planen des Selbstverständlichen, die Suche nach Kompromissen. Die Frage: Was wäre, wenn Hans endgültig schließen würde?
"So lange Hans arbeiten kann, wird er unser Wirt sein", sagt Anita. Wir nicken. Wir haben einen Biergarten gefunden mit großem Tisch und bezahlbarem Wein. Die Kellnerin weiß, warum wir kommen. Sie schließt erst, wenn wir wirklich müde sind oder betrunken. Da haben ihre Kollegen längst Feierabend, und sie hat zwei bis drei Überstunden auf dem Zettel. Wir kennen jetzt ihren Namen, die Weinschorle schmeckt vertraut. Doch bald schon werden wir heimkehren. Wir werden über das Kreuzberger Ambiente spotten. Hans wird seine Freude mit Grimm kaschieren. Dafür werden wir ihn lieben. Und uns. Und das Leben.
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Kommentare 14
Rummms ,klasse diese schöne Alltagsschilderung. Ich liebe sowas. Und beneide Dich um diese schöne "Betreutes Trinken" Runde. Wenn sowas zusammenfindet, ist man doch prima dran.
Ach übrigens als der Name "Corso" auftauchte, packte mich die Wehmut. Ich kenne ja das alte "Corso" noch, das es lange nicht mehr gibt.
Überhaupt - Leipzig....Achja.
Davon abgesehen - ist wirklich sehr schön erzählt.
Gruß Magda (Die ein Bier trinkt nachher, aber brav zu Hause - seufz)
Toll geschrieben. Lakonisch, aber mit Herz. Danke dafür, kay. Kloetzer!
Kann man mal vorbeikommen? Wenn fertig renoviert ist.
So schön erzählt, man möchte zur Runde dazugehören.
Liebe Magda, Anna, Titta,
Dank Euch sehr für den Zuspruch (ohne Wodka), Ja, es ist wirklich etwas Besonderes, eine Möglichkeit der Familie. Und, ich muss es sagen: auch das Weiterleben einer DDR-Erfahrung.
Die Zusammengehörigkeit hat ja bei Hans nur ihr Basislager. Sie setzt sich fort in Ausflügen, Urlauben, Krankenbetreuung, Wohnungsrenovierungen, Theaterbesuchen, Jobvermittlungen - in guten wie in schlechten Zeiten.
Liebe Grüße
kay kloetzer
Wer sucht, der findet. Kommste nach Hause, zurück von einer erfreulichen Wochendtour, dann guckste doch, was se wieder so geschrieben haben, hmmm, kommst dann auf die Idee, mal in den Orkus zu gucken, ach, was von kay.kloetzer! - Gleich gelesen, gut gefallen. Danke!
liebe kk, was ich jetzt gerade tue, heißt im holländischen aanschuiven, wörtlich anschieben, damit ist gemeint, dass sich jemand dazugesellt, wahrscheinlich hergeleitet von den verschiebungen auf der gemeinsamen sitzbank, wenn jemand dazukommt.
will sagen, ich schließe mich denjenigen vertrauten an, die schon hier versammelt sind und denen dein text gefällt. und das sage ich als einer, der kneipen nur von außen kennt. menschen auch von innen.
grüß dich herzlich
h.y
Bitte, werter h.yuren, das müssen Sie mir erklären:
Heisst das, das sie, auch als Jugendlicher, nie in einer Kneipe waren? Ich gebe zu, nach 30 und mit Kind(ern) nimmt das ab bzw. wird mehr durch Bars und Cafés ersetzt. Aber so von 15-30. war, ich sehr gern in Kneipen, GUTEN Discos, Cocktail-Bars...
Wobei ich allerdings nicht Eckkneipen meine, wie es sie z.B. in Berlin gibt (immer noch?) Die sind speziell und liebenswert, gibts oder gabs so aber nur in Berlin, glaube ich. So wie es den typischen Kiosk, das "Büdchen", in Hamburg nicht gibt... Jedenfalls, ich bin einfach gern und viel ausgegangen, wo immer ich gelebt habe.
Wie kommt es also, oder leben Sie sehr zurückgezogen?
Gespannt auf Ihre Antwort, Anna
Kleiner Nachtrag: Bei mir geht es gerade wieder los, wo das Töchterlein (17) mich auch mal begleitet, und ich einfach wieder mehr Zeit habe... Und es macht wieder Spass. Was also bewegt sie dazu, Kneipen abzuschwören?
liebe anna, du weißt, mensch soll nie nie sagen. aber mit dieser einschränkung stimmts, dass ich die schnapsbuden nie einladend fand.
die furiosen 40er habe ich längst hinter mir. aber darum musst du den werten alten herrn doch nicht mit einem "Sie" bewerfen, anna.
die erste du-welle erlebte ich im zweitstudium, die zweite im netz. damit ist die ur-anrede vom land in die städte gezogen wie so manches ursprünglich scheue waldtier.
ich wohne jwd, manchmal fliegt ein fasan in meinen garten.
einen schönen abend wünsche ich dir mit dem töchterlein.
nachtrag:
doch ja, anna, als jugendlicher im westfälischen flecken war ich zum tanzkurs und im selben größten saal am ort ein paar jahre früher gewesen, als erster boxer in einer öffentlichen veranstaltung. eine andere kneipe sah ich von innen, als das ende des progymnasiums gefeiert werden musste.
also "nie" stimmt nie. aber mehr wars nicht.
Danke, lieber h.yuren;
gerne sage ich Du: Hier in HH-Ottensen ist das auch so üblich, auch in den Geschäften, da hat sich das alte Arbeiterviertel überlebt, und ich mag das. Aber hier in der Community wird auch gesiezt, ich weiss also immer nicht genau...
Danke für Ihre Antwort! Das mit dem "jwd" höre ich immer aus Deinen Kommentaren und Blogs; es schwingt so eine Ruhe mit. Das fehlt mir hier oft in der Stadt, auch wenn Hamburg eine eher ruhige Großstadt ist.
Das mit dem "erster Boxer in einer öffentlichen Veranstaltung" würde ich auch sehr gern noch genauer wissen: Du hast einmal geboxt?
Immer schön von Dir zu lesen, und danke für den Abend- Gruß, auch fürs Töchterchen. Sie ist wirklich ein Glück und meine große Freude.
Herzlich, Anna
liebe anna, gern will ich das frage-antwort-spiel mit dir fortsetzen; nur möchte ich hier nicht kk's runde am stammtisch dazu missbrauchen. technisch bin ich mit der inbox leider nicht zurecht gekommen. ich habe ein problem.
liebe kk, dass mir deine geschichte gefällt, habe ich schon gesagt, nicht aber, warum sie mir gefällt. das will ich nachholen mit ein paar kritischen perlen:
schon der titel ist so verlockend vielversprechend, obgeich mutzschen dem geographisch ausgebildeten nicht geläufig ist, das wird irgendwo auf halbem weg zwischen new york und tokio liegen, entsprechend der 3. wanduhr, ist eine erste vermutung, aber wo genau, keine ahnung, auch atlanten wissen es nicht, aber das netz, das alles kennt, verrät mir das städtchen in sachsen, so groß wie ein durchschnittliches dorf mit grundschulen; ich hatte den unbekannten ort weiter östlich vermutet, irgendwo im mehr oder weniger dunklen wie die "Nächte", vielleicht sogar in sibirien, laut wikipedia ist davon nur der slawische ursprung übriggebieben, und der wodka aus der anderen perle, die ich aber so ganz in ihrem glanz belassen werde:
"Dann trinken wir Wodka und predigen Zuversicht."
genauso halte ichs mit der folgenden perle:
"An manchen Abenden retten wir die Welt. An den anderen uns."
an beiden abendarten wäre ich wie magda und titta zu gern dabei "am Stammtisch der gescheiten Existenzen", wenngleich die wendung doch sehr nah bei den gescheiterten existenzen liegt und diese assoziation bei der doppelt vernebelten atmosphäre durch qualm und wein- oder korngeist naheliegt.
als abstinent lebender, was rauch und geräuchertes, rausch und viele geräusche angeht, kann ich "den seligen Zeiten vor dem Nichtrauchergesetz" natürlich nicht viel seliges abgewinnen. was nicht ausschließt, dass ich damals in baden-baden mit peter zwetkoff auf das gelingen der arbeit getrunken habe. er zitierte als muster den brauch der persischen feldherren, die vor der schlacht im rausch entschieden, was zu tun war. kriegskultur eben, würde ich heute sagen.
danke, kk, für deinen sehr lesenswerten beitrag.
Lieber h.yuren:
ich antworte heute erst, weil ich soeben aus dem Urlaub zurück bin. Eine Woche im Brandenurgischen, zwei Wochen auf Hiddensee - da bin ich doch noch sehr weit von den Nächten in Mutzschen entfernt. Und werde natürlich trotzdem nachher hingehen, schauen, ob die Urlaubskarte angekommen ist und was es sonst noch Neues gibt. Es wird wohl alles beim Alten sein. Auch, weil wir gescheiten Existenzen natürlich nah bei den gescheiterten sind, zumindest wenn man die Maßstäbe der regierenden Mehrheit anlegt: Ehe, Kind(er), Sportschau. Wir entscheiden zwar keine Schlachten, aber so manches gesellschaftliches Scharmützel lässt sich im Rahmen bewusstseinserweiternder Gespräche trefflich ertragen.
Ja, Mutter hat die Kneipe wieder aufgemacht, und so schlimm wie befürchtet sieht sie gar nicht aus, die Kneipe. Die Uhren hängen wieder: New York, Mutzschen, Tokio. Nun zwar vertikal, jedoch: Die Mitte bleibt.
Herzlich
kk