... und steigen dort um

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11.42 Uhr soll der ICE 1611 den Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen verlassen. Heute kommt er nicht aus Warnemünde, heute nimmt er hier erst Fahrt auf Richtung München. Das erhöht die Chancen, dass er halbwegs pünktlich ist. Trotz des hauptstädtischen Wochenend-S-Bahn-Fahrplans haben es etliche Fahrgäste ans Gleis geschafft, als 11.39 Uhr Bewegung in die Anzeigetafel kommt.

Der Spruch „Ansage beachten“ begleitet die Berliner ja derzeit durch den Nahverkehr. Das Laufband „Nicht zusteigen — 55 Minuten Verspätung — Nicht zusteigen — 55 Minuten Verspätung“ jedoch spricht, zumal ganz ohne Ansage und recht plötzlich, dann doch für eine andere Dimension.

Und also reagieren die potenziellen Fahrgäste angemessen: Sie lachen. Ein Glucksen wird zum Kichern wird zum Wiehern. Eine Heiterkeit, wie sie sonst nur Mario Barth noch auszulösen imstande scheint, erfasst Gleis 7. Und droht auf Gleis 8 überzuschwappen – da fährt er ein, der ICE 1611 nach München. Pünktlich auf die Minute. Wir lernen: Es ist nicht alles, wie es scheint.

Vergleichbares ließ sich schon am Vortag erahnen bei der sogenannten Galerienwanderung, wobei, anders etwas als bei der Krötenwanderung, nicht Galerien wandern, sondern Kulturradio-Hörer, ausgewiesen durch eindeutig beschriftete Anstecker, durch die alte wie neue Mitte ziehen, sich unter jene Väter mischend, die zum Buggy-Schieben Schlips tragen. Oder zum Anzug Kind?

Wie dem auch sei: Manche Galerien sind dabei, andere machen mit. Bei Leo.Coppi ist das Gedränge groß zur Eröffnung einer Ausstellung mit Terrakotta-Arbeiten von Robert Metzkes und Radierungen von Arno Mohr. Menschen halten Weingläser und gottlob keine Vorträge, denn man muss seinen Kleist nicht gelesen haben um zu wissen, „dass mancher großer Redner in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wusste, was er sagen würde.“

Aber auch das gibt es an diesem Samstagnachmittag, sofern die Kulturradio-Ordner einen ohne Anstecker denn hineinlassen. In der Galerie Berlin sind neben den kraftvollen Gemälden Henning Kürschners auch Lithographien Bernhard Heisigs zu sehen. Im Schaufenster gibt es den Bildband „Et in Arcardia Ego: Ein Totentanz“ zu entdecken mit Bildern des Malers Lutz Friedel, darunter „Tod und Tempo“, in dem eine Packung Zellstofftaschentücher eine nicht unwesentliche Rolle spielt. In der Galerie Schwind wird umgebaut, bei Eigen+Art sitzen Menschen zwischen Kopfhörern, und in Clärchens Ballhaus ist „heute Schwoof“.

Eine Gedenkminute für das Wort Schwoof: .

Zwischen den Wanderern und Pilgerstätten gibt es eine Überraschung: Im Hinterhof der Auguststraße 71, hinter Plaste-Rutsche, Korbsessel-Ruine und Gesträuch, näht Gudrun Leitner Bilder. Wenn sie nicht gerade eine Kettensäge umsäumt oder Kuhköpfe auf Taschen appliziert. Sie zeigt an ihrem „Tag der offenen Werkstatt“ das Porträt eines Mannes, das aus der Nähe wirkt wie ein Fleckenteppich, doch schon aus ein, zwei Metern Entfernung mit dem Effekt eines Gemäldes verblüfft.

Rund zwei Monate sitze sie an so einem Textil-Bild. Leben, sagt sie, könne sie davon nicht, doch habe sie das Verfahren selbst entwickelt und es inzwischen zu einiger Meisterschaft gebracht. Das Ergebnis sieht aus wie ein am Computer verfremdetes Foto – nur ist es aus übereinander gebügelten und genähten Stoffflächen. Die Stoffe wiederum sind möglichst Bio (wir sind in Mitte!) und aufwendig zusammengesucht, stammen also nicht aus den Reste-Kisten jener Läden, die heute „Stoffwechsel“ heißen müssen oder „Nähboden“.

Ein Stoffbeutel mit Kuh kostet so um die 65 Euro, die Handy-Tasche gibt es schon ab 30. Damit könnte man sich auch in München sehen lassen. Oder Lutherstadt Wittenberg. Oder Leipzig. Im ICE 1611 sowieso. Obwohl Mobiltelefone im Bordbistro (vgl. Mitropa) sehr unerwünscht sind. Doch das ist eine andere Geschichte …

(dieses Blog ist zuerst erschienen unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer