Unser Wirt und der Fremde

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Es lässt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wer es zuerst ausgesprochen hat: “Der ist nicht von dieser Welt”. So richtig kennt ihn ja niemand von uns. Und auch eigentlich nur vom Sehen. Alterlos wirkt er. Selten, dass sich am Tresen ein Gespräch ergibt. Und was heißt schon Gespräch. Bis zwei Uhr ist alles gesagt, heißt es in der Kneipe. Das stimmt aber nicht. Was man bis zehn nicht gedacht hat, kann man danach auch nicht mehr lallen.

Er jedenfalls, wir nennen ihn Magenbitter, weil er manchmal ausschaut, als bräuchte er einen, hat immer einen kleinen Koffer bei sich, aus dem er einen Laptop holt, auf dem er viele Stunden tippt. Manchmal kommen Freunde dazu, zwei Männer und eine Frau. Die vier wirken sehr vertraut miteinander, hecken irgendetwas aus. Das sieht man an den Zetteln, die sie bekritzeln und zerknüllen. Danach lässt er sich wochenlang nicht blicken. Und dann, wenn er wieder sein Köfferchen neben den Tresen stellt, schaut er lange ins Irgendwo … Da schafft es niemand, seinen Blick einzufangen. Bis auf den Wirt.

Als eines Abends mal wieder alles gedacht und das meiste gesagt ist, aber niemand recht nach Hause will, weil jede Gemeinschaft hält, was eine Wohnung nicht versprechen kann, da setzt der Wirt sich zu uns und erzählt von ihm. ” Er hat früh seine Eltern verloren und sich, vielleicht weil er es vom Vater nicht besser wusste, noch vor dem Abi zum Bund gemeldet.” Im Ausland war er eingesetzt, hat Dinge gesehen, über die er nicht spricht. Sieben Jahre lang. Danach hat er mal dies, mal jenes versucht, war Gasthörer an der Uni und ist durch die Gegend gereist.

Ob er eine Freundin hat, fragen wir. Die Frau, die manchmal kommt, sie scheinen sehr vertraut … Der Wirt glaubt herausgehört zu haben, das sei eine Halbschwester. Und dass er mal so etwas wie verlobt war. Schöne Briefe hat er der Braut geschrieben und das dann weiter versucht, das Schreiben. Fürs Theater sogar. Und mit Medien hat er auch was gemacht, erst drüben in Dresden eine Art Zeitschrift, später noch was in Berlin. Doch alles nicht besonders erfolgreich.

Er wirkt ja auch wie nicht von dieser Welt, werfen wir ein. Irgendwie rastlos ist er. Irgendwie unglücklich. Nicht unsympathisch, aber eben immer auf dem Sprung. Ein Wunder, dass er immer wieder hierher kommt.

“Ja”, sagt der Wirt, “ein Wunder. Zu Euch irgendwie Rastlosen und irgendwie Unglücklichen, die Ihr nicht unsympathisch seid, aber immer auf dem Sprung. In Gedanken zumindest und in der Seele übrigens auch.” Er steht auf. “Ihr sitzt hier und wartet auf irgendein Glück. Er aber geht raus und sucht es. Und was er in einem Satz findet, davon könntet Ihr ein paar Wochen leben. Lest ihn, dann wisst Ihr, was ich meine.”

Wir starren ihn an. Muss man ihn kennen?
Er gießt sich einen Magenbitter ein. “Er heißt Kleist. Heinrich von Kleist.”

(Dieses Blog ist zuerst erschienen unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer