Chancengleichheit 4.0

Zukunft Bei der Debatte über die Digitalisierung der Arbeit wird allzu oft der Genderaspekt vergessen
Ausgabe 03/2017

Sobald denkfähige Computer alle möglichen Tätigkeiten übernommen und Maschinen die menschliche Schaffenskraft sogar in kreativen Branchen ersetzt haben, könnte die Welt, wie wir sie kennen, tatsächlich verschwinden. Wir werden dann mit ansehen, wie künstliche Intelligenz Arbeitsplätze für Millionen Menschen vernichtet.

Oft kreisen Studien, Analysen und Spekulationen um den Begriff Arbeit 4.0 oder Industrie 4.0 – als eine Revolution, die bereits im Gange ist. Einige Szenarien sind aus dem Kino bekannt: In Hollywood-Produktionen wie I Robot verrichten „NS-5“-Konstruktionen Dienste im Haushalt, und in Surrogates arbeiten, leben und lieben Klon-Apparate für ihre zu Hause bleibenden Originale das Leben außerhalb der Wohnung. Man mag über solche Visionen den Kopf schütteln, sollte aber bedenken: Die Star-Trek-Crew arbeitete schon in den 80er Jahren mit Tablets, da wurden Zeitungstexte ansonsten noch auf Schreibmaschinen getippt.

Ein gestaltbarer Prozess

Also: Wie sieht die Arbeit in der nahen Zukunft wirklich aus? Eine Studie, die die ING-Diba-Bank vor Kurzem in Auftrag gegeben hat, geht davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten 18 Millionen Beschäftigte allein in Deutschland durch Computer ersetzt werden. Diese Zahl macht annähernd klar, dass die Digitalisierung fast jeden in seiner Arbeitsbiografie betreffen wird. Doch vor unbegründeter Panikmache muss auch gewarnt werden.

Vielleicht ist es auch nur eine Frage, wem man zuhört. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die für die Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahr einen einschlägigen Report verfasst haben, schlussfolgern nüchterner: „Es gibt keinen technologischen Determinismus, der bestimmte Arbeits- und Beschäftigungsformen vorgibt.“ Und: „Die Digitalisierung ist auch ein gesellschaftlicher Prozess, der an bestehende Institutionen, Verhältnisse sowie Normen und Werte anknüpft. Dieser kann mitgestaltet werden.“

Schließlich werden seit über 50 Jahren Computer in Produktion und Verwaltung eingesetzt – und die Beschäftigungsquote in der Bundesrepublik Deutschland ist zurzeit trotzdem so hoch wie seit Langem nicht mehr. Zur Wahrheit gehört hier aber auch dazu, dass diese Quote der Verdoppelung der Leiharbeit innerhalb von zehn Jahren zu verdanken ist sowie dem Anstieg an erwerbstätigen Frauen, die überwiegend in Teilzeit beschäftigt sind. Der Anteil an Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen wuchs von 2005 bis 2015 um das Doppelte. Daher bricht bei der Hans-Böckler-Stiftung auch niemand in Jubel aus: „Gut ein Drittel aller Beschäftigten ist heute in atypischen, also von der unbefristeten Vollzeit mit geregelten Arbeitszeiten abweichenden Arbeitsverhältnissen tätig.“

Dennoch, so die Autorinnen und Autoren des Reports, würden die zu erwartenden Beschäftigungseffekte der Digitalisierung durch weitere Aspekte relativiert: rechtliche Rahmenbedingungen etwa, gesellschaftliche Akzeptanz und die „einzelbetriebliche Wirtschaftlichkeit“ der Automatisierung. „Experten neigen zudem dazu, die technischen Möglichkeiten zu überschätzen. Die Diskussionen und Entwicklungen um die Digitalisierung sind interessengeleitet.“

Wer sich mit der digitalisierten Arbeitswelt befasst, stellt sich oft den Arbeiter in der Autofabrik vor, der bald überflüssig wird. Tatsache ist aber: Ganz oben auf dem Ranking der gefährdeten Berufe stehen vor allem Jobs in Büros und Sekretariaten, Verkauf, Gastronomie. Also Branchen, in denen meist überwiegend Frauen tätig sind. Und da Gleichberechtigung und Emanzipation maßgeblich von der ökonomischen Unabhängigkeit eines Menschen abhängen, ist es deshalb für die Zukunft von Frauen und ihrer Gleichstellung entscheidend, den Blick auf Arbeit 4.0 um eine Geschlechterperspektive zu erweitern. Vorstellungen von selbstfahrenden Autos und Roboterarmen in den Fabriken müssen dringend um diesen Themenbereich erweitert werden.

Fakt ist: Weder wird die Arbeit abgeschafft, noch wird es weniger davon geben, schon deswegen, weil heute schon massenhaft unentgeltlich gearbeitet wird – vor allem in Haushalt, Erziehung und Pflege, also bei der sogenannten Care-Arbeit. Aber weil das der Gesellschaft immer noch nicht genug wert ist, taucht diese in ökonomischen Statistiken oft nicht oder nur am Rande auf. Auch weil Menschen zu viel und zu lange arbeiten, wird verkannt, wie viel gesellschaftlich notwendige Arbeit es wirklich gibt und künftig geben wird.

Eine Analyse der Boston Consulting Group zeigt außerdem: Auch bei Banken, Energieversorgern, Telekommunikationsanbietern und Versicherern stehen Umbrüche aufgrund der Digitalisierung bevor. Callcenter verlören beispielsweise bald an Bedeutung, der virtuelle Agent wird den telefonierenden Menschen ersetzen.

Nun wird im Zuge der Digitalisierungsdebatte eine scheinbar attraktive Lösung der voraussehbaren sozialen Probleme immer wieder genannt: das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Aber Kritiker wie der Armutsforscher Christoph Butterwegge, der zurzeit Kandidat der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten ist, warnen davor, mit dem Versprechen, jedem eine bestimmte Summe auszuzahlen, einer Illusion aufzusitzen. Butterwegge findet das BGE schlichtweg ungerecht, wie er im Freitag (22/16) schrieb. Das BGE avanciere „zur Herrschaftsideologie der Internet-Bourgeoisie und zur Sozialphilosophie des Digitalprekariats“. Die Eigentumsverhältnisse bestünden dabei aber fort, die soziale Ungerechtigkeit bliebe erhalten, betont er.

Wer Verteilungsgerechtigkeit anstrebe, dürfe daher nicht auf das BGE setzen: „Ein Kommunismus im Kapitalismus ist nicht möglich“, sagte Butterwegge in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur kürzlich. Er schlägt angesichts des Wandels vor: „Wenn intelligente Maschinen, Roboter und Automaten wirklich zur Grundlage der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion werden, stellt sich die Frage nach dem Eigentum und der Verfügung über diese Maschinen. Verliert die menschliche Arbeit tatsächlich ihre Bedeutung für die Wertschöpfung, bedarf es einer Alternative zum Kapitalismus.“

Utopien sind notwendig

Bei der BGE-Diskussion zu Arbeit 4.0 gerät zudem allzu oft in Vergessenheit: Den bundesdeutschen Sozialstaat gibt es nicht, weil sich verantwortungsbewusste Menschen hingesetzt und ihn sich ausgedacht haben. Alle Leistungen, die heute Menschen je nach Bedürftigkeit zugutekommen, sind das Ergebnis von politischen Mehrheiten und von meist gewerkschaftlichen Errungenschaften: Bismarck führte Kranken- und Sozialversicherungen auch deshalb ab 1883 ein, um gewerkschaftlichen Standards die Grundlage zu entziehen.

Und man darf in der BGE-Diskussion auch den Genderaspekt nicht vernachlässigen: Für Frauen ist es genauso wichtig wie für Männer, eigenes Geld durch eigene Arbeit zu verdienen, anstatt durch ein BGE an der wirtschaftlichen Eigenständigkeit gehindert zu werden. Indizien für diesen Zusammenhang liefert eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo. Sie untersucht die „wirtschaftliche Stabilität und soziale Teilhabe von Familien“ durch das Kindergeld, das in geringem Umfang ein bedingungsloses Grundeinkommen für Eltern ist. Das Ergebnis: Kindergeld reduziert die Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen.

Utopien sind natürlich notwendig, Visionen über die zukünftige Arbeitswelt ebenso. Zur Debattenkultur gehört aber auch, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, wie soziale Rechte und gute Arbeitsbedingungen einst durchgesetzt wurden. Und wie sie künftig zu erreichen sind.

Chancen für Frauen bei der Digitalisierung sieht der Report der Hans-Böckler-Stiftung vor allem, wenn flexibles Arbeiten und Home-Office zu abgesicherten, geschützten Normalarbeitsverhältnissen würden. Die Präsenzkultur in Betrieben aufzubrechen, könne zu einer neuen partnerschaftlichen Arbeitsteilung beitragen. Außerdem müssten Schutznormen aus dem Arbeitszeit- und Arbeitsschutzgesetz wieder in Kraft gesetzt und das Betriebsverfassungsgesetz als leitbildprägende Schutzfunktion ausgebaut werden. Vorschläge, für die es sich nicht nur für Frauen lohnen würde, zu streiten.

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Geschrieben von

Kersten Artus

Journalistin, Bloggerin, Frauenaktivistin

Kersten Artus

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