Abgezockt bis aufs Blut

ALKOHOL UND APOKALYPSE Zwei Bände des ungarischen Erzählers Sándor Tar

Es grenzt schon an ein Wunder, dass es heute noch Autoren zu entdecken gibt, die in ihrer Biografie kein Germanistik- oder Philosophiestudium vorzuweisen haben, sondern ganz und gar aus dem "Leben" schöpfen, Schreiben nicht aus Langeweile oder als luxuriöse Freizeitbeschäftigung betreiben, nicht auf Erfolg versessen sind, und trotzdem Erfolg verzeichnen. Meine Entdeckung heißt Sándor Tar. Tar ist in Ostungarn geboren und stammt aus einer Bauernfamilie. Er besuchte die technische Fachschule und war danach 32 Jahre als Techniker, Industrielackierer und Montagemechaniker tätig. 1967 bis 1970 war er Gastarbeiter in einem Betrieb in Dresden. Seit 1990, mit Zusammenbruch des politischen Systems, verlor er seine Arbeit und arbeitete als Journalist. Seine ersten Bücher veröffentlichte der literarische Autodidakt, als er noch als Fabrikarbeiter beschäftigt war. Mittlerweile sind von ihm in Ungarn vier Bände Erzählungen und zwei Romane erschienen, wofür er zahlreiche Literaturpreise erhielt und somit zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Ungarns zählt.

Ein Bier für mein Pferd heißt Tars erster Roman, 1995 in Ungarn veröffentlicht, von Hans Skirecki hervorragend übersetzt. Dem Leser wird eine der tragisch-komischsten und verrücktesten Versammlungen von Dorfbewohnern vorgeführt, die es in der Literatur je gegeben hat. In einem Kaff bei Debrecen, wo die krumme Straße "das sind dreißig, vierzig Häuser am Rand des Dorfes, vorn Kneipe und Busstation, die Hälfte der Bewohner leben von der Rente oder dem Arbeitslosengeld" durchführt, regiert neben dem Chaos, das der abgeschaffte Sozialismus hinterlassen hat, nur noch eines: der Alkohol. Alles, wirklich alles, trinkt, vom Kind über den Briefträger, den Pfarrer und den Kneipenwirt bis hin zu Dorogis Pferd. Letzterem werden regelmäßig ein paar Biere eingeholfen, damit es, zusammen mit allen anderen, die noch herumkrauchen können, auf die Sehnsucht oder die Liebe anstoßen kann. Im Dorf leben wunderliche Gestalten, die ein Leben führten und führen, das so gar nicht in die heutige Aufsteigerzeit passt: Versager, Nichtsnutze, Abgestürzte, Verrückte und Kranke aller Art. Jeder von ihnen träumt, der ländlichen Einöde zu entkommen. Sie schaffen es aber nur bis zur Stammkneipe "Misis Espresso" oder bis zur Akazie, die in ihrer Geschundenheit und Trinkfestigkeit (Urin) selbst schon den Bewohnern des Dorfes ähnelt. Dinge geschehen, die so skurril und makaber sind, dass der Leser, der für solche Literatur einen Sinn hat, sie niemals vergessen wird. Da gibt es zum Beispiel die schöne Mancika, die sich lebensmüde auf die Zugschienen legt, und keiner will sie herunterziehen, weil der Sechsuhrzug schon vorbei ist. Oder der alte Lakatos, der früher als starker Brückenbauer protzte und jetzt nur noch ein Krüppel ist, will weg aus dem gottverlassenen Nest, weg von seiner versoffenen Frau zum Bahnhof - aber die Stelle, von der er meint, sie sei der Bahnhof, ist nur das Gartentor, und in dieser Nacht macht Lakatos seiner Frau das erste Mal eine Liebeserklärung. Sie leben, schlafen und sterben miteinander. Sie trinken mit Vorliebe selbstgemachte Weine mit chemischen Zusätzen, die an die pikanten Spirituosen-Rezepte aus Jerofejews Reise nach Petuschki erinnern, und von denen einem schon schlecht wird, wenn man nur davon liest. Jemand kocht Hühnerbrühe mit Federn, Seife und Haarnadeln; ein anderer schläft bei den Schweinen; der evangelische Pfarrer nimmt die Beichte ab; und Rózsa, deren Namen auch die Dorfkuh trägt, nascht mit Vorliebe Fäkalien. Die Leute saufen auf Kredit, bekommen umsonst und werden abgezockt bis aufs Blut. Ihr Leben verläuft im wahrsten Sinne des Wortes. "Wer männlichen Geschlechts ist, beginnt mit vierzehn zu rauchen und ein paar Jahre später zu trinken, er bringt irgendwie die Schule hinter sich und lernt einige Fabriken der Stadt kennen ... sie hausen Jahrzehnte in Arbeiterwohnheimen und rollenden Baracken, die meisten kehren heim, wie sie weggegangen waren, mit leeren Händen, betrunken, es wird geheiratet und gestorben, Kinder kommen, viele bringen ihr Leben lang nicht über die Lippen ich liebe dich, und sie bekommen es auch nicht zu hören ... das größte Abenteuer im Leben der Jungen ist der Militärdienst..." In ihrem früheren Dasein haben die kauzigen Helden dieses Buches gearbeitet: im Kugellagerwerk, in der Lederfabrik, an der Dreschmaschine. Jetzt gibt es keine Arbeit mehr, und die einzige Frage, die sie stellen "Wozu lebe ich?" wird nicht beantwortet werden können. Ebenso wenig wie die Frage, die das ganze Land betrifft: "Was soll hier werden?"

Sándor Tar hat keine Siegertypen parat, mit denen man eine verlogene Zukunftsschau betreiben kann. Seine wankenden, komisch-traurigen Gestalten sind lebendige Protagonisten unserer Tage, in ihrer Verkommenheit liebenswert. Ungarn ist nur ein Schauplatz, der nach dem untergegangenen Sozialismus mit Lebenslügen und Tristesse aufgefüllt wurde. Tars Motiv des Nicht-Herauskönnens und des Nirgendwo-Ankommens liegt begründet in den Dingen und Umständen, die den Menschen das Bewusstsein nehmen. Der Alkohol ist dafür nur eine Metapher. Geschrieben wird der Roman mit Nähe und gleichzeitiger Distanz, mit wunderbarer Poesie und erschreckender Klarheit, und er greift tief aus dem Leben in es hinein. Sándor Tar verfügt über ein enormes sprachliches Vermögen. Mit wenigen Sätzen gelingt es ihm, eine ganze Figur zu zeichnen. Man sieht sie vor sich, kann mit ihr lachen, weinen und wenn man will, auch sich besaufen.

Das Anfangskapitel des Romanes Die graue Taube entstand als Auftragsarbeit für ein politisches Wochenmagazin in Ungarn. Dieses Kapitel stieß bei den Lesern auf soviel Interesse, dass Sándor Tar gebeten wurde, die Geschichte Woche für Woche weiter zu schreiben. Sie liegt nun in der Übersetzung von Krisztina Koenen vor. Deutlicher als in den Geschichten der skurrilen Dorfbewohner des ersten Romanes haben wir hier eine Parabel vor uns, und da allzu deutlich Gleichnisse und aufgedeckte Wahrheiten nicht unbedingt bessere Literatur machen, hat mir Die graue Taube auch weniger gefallen.

Es ist ein Roman über das Verbrechen, eine Apokalypse der heutigen Zeit: Die Einwohner einer Kleinstadt geraten in Panik, da plötzlich einige von ihnen aus mysteriösen Ursachen heraus zu verbluten beginnen. Gleichzeitig werden Tauben aggressiv, ändern ihre Fluggewohnheiten, attackieren einander und verbluten ebenfalls. Jede Ordnung scheint außer Kraft gesetzt. Die Leute beginnen einander anzufallen, zu quälen und zu ermorden. Mörderische Instinkte und Perversitäten bekommen freien Lauf, und bald ist von Menschlichkeit in der Stadt nichts mehr zu spüren. Eine Epidemie wird vermutet, und Molnár macht sich auf die Jagd nach dem Verursacher. Diesen sieht man zunächst in einem Taubenmann und einem Verbrecher mit Hasenscharte. Es beginnt nun eine Verfolgungsjagd durch alle Schichten und Milieus der Kleinstadt, bei der es keine Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt. Jeder könnte der Verursacher der Epidemie sein: der Hausmeister, der für Tauben Körner präpariert; die Polizeikommissare; der Gesangslehrer István Szücz; der jagdbesessene Junge, der sich Neger nennt oder jeder andere. Die Polizei gleicht den Kriminellen, die sie verfolgen soll; eine ominöse Zeitungsanzeige "Haben Sie genug? Rufen Sie mich an!" fordert unter den Bürgern merkwürdige Taten heraus, und der lokale Radiosender East-West regiert dumm-chaotisch und machtgeil das Geschehen. Die Auflösung des Rätsels changiert zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Tod und Maskerade: dem ermordeten Polizeikommissar Csiszár wird eine selbstklebende Hasenscharte von der Oberlippe gezogen und eine Kiste mit lustigem Faschingszubehör wie durchgeschnittene Kehlen, aufgeschlitzte Bäuche oder ausgelaufene Augen geöffnet, und trotzdem sind alle Toten wirklich tot.

Diese Prosa ist mehreres. In ihrer besten Form ist sie ein Kriminalroman: ausufernd, turbulent, spannend; mit Motiven von Hitch cock, Camus und Kafka gespickt. Die kriminalistischen Fäden sind geschickt verknüpft, man kommt aus dem Wundern und Erschrecken nicht mehr heraus, und wenn die Gewaltpassagen schwarzhumorig sind, sind sie auch zu ertragen. Für meinen Geschmack jedoch treibt Sándor Tar in diesem Buch oft die Beschreibungen der Gewalten ins Unerträgliche, und wenn das geschieht, liegt das Klischee nicht fern. Die Metapher der ausgebluteten, aufgelösten und sinnentleerten Gesellschaft gewinnt dann keine Dimension und bleibt dem Spektakulären verhaftet. Da in unseren Medien täglich Endzeit- und Katastrophenbilder auftauchen, geschieht es mitunter, dass Tars Beschreibungen diese nur noch bestätigen und Überdruss erzeugen. Die Stärke Sándor Tars liegt meines Erachtens in der Beobachtungskraft. Er ist immer dann überzeugend, wenn er in das Lebensmilieu seiner Figuren hinabsteigt, Alltag beschreibt und die Gewalttätigkeiten in der Andeutung belässt. Gruselig und spannend ist das Buch auf jeden Fall, und darüber hinaus ein stimmiges Bild unserer Zeit. Allzu stimmig vielleicht, als dass ich mich nicht dagegen wehren möchte.

Sándor Tar: Ein Bier für mein Pferd, Roman. Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 228 S., 32,- DM

Sándor Tar: Die graue Taube, Eichbornverlag, Frankfurt am Main 1999, 304 S., 39,80 DM

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