Geh den Gang

Literatur Ein Sammelband über Psychogeografie hilft uns, die Stadt neu zu lesen
Ausgabe 07/2020

Dass zielloses Umherwandern in Städten zur „revolutionären Umgestaltung der Welt“ beitragen könnte, wie der französische Autor und Filmemacher Guy Debord einst schrieb, erscheint auf den ersten Blick vermessen. Debord war 1957 Mitbegründer der Situationistischen Internationalen, einer Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, die auch den Begriff „Psychogeografie“ prägte, eine Mischung aus hochtrabender Avantgarde-Theorie und politischem Aktivismus. Inspiriert von den Collagen der Dadaisten und Surrealisten schnitt Debord für einen „Psychogeografischen Stadtführer für Paris“ Schnipsel aus dem Stadtplan aus und setzte sie nach dem Zufallsprinzip neu zusammen. Die dabei entstandenen Spazierrouten sollten eine spontane, zweckentfremdete Erfahrung des urbanen Raums ermöglichen und so die vorherrschende gesellschaftliche Ordnung unterwandern.

Botschaften an Laternen

Obwohl das Flanieren in der deutschen Literatur eine lange Tradition hat, ist das Konzept der Psychogeografie hierzulande bisher weitgehend unbekannt, wie Herausgeberin Anneke Lubkowitz im Vorwort der Anthologie Psychogeografie schreibt. Versammelt sind darin zahlreiche, mitunter erstmals auf Deutsch erscheinende Texte französisch- und englischsprachiger Autoren sowie diverse neu verfasste deutschsprachige Beiträge. Es sind literarische und theoretische Arbeiten. Das dient einerseits dem historischen Überblick über die Entwicklung des Konzepts. Andererseits wird auch seine zeitgenössische Relevanz unterstrichen. Denn es gehe, so Lubkowitz, auch darum, zu fragen, „was wir mithilfe der Psychogeografie über die globalisierte Großstadt des 21. Jahrhunderts erfahren können“.

Dass diese Frage heute wieder häufiger gestellt wird, hängt auch damit zusammen, dass Psychogeografie seit den 1990ern vor allem in Großbritannien eine Renaissance erlebt. Autoren wie Peter Ackroyd, Will Self und Iain Sinclair schrieben Bücher und Essays über London, in denen versucht wird, die Geschichten hinter der Stadt zu lesen. Das soziologische wie archäologische Interesse an der Stadt war auch eine Reaktion auf zunehmende Privatisierung und Gentrifizierung und die damit einhergehende Verdrängung von Kulturen und Lebensstilen.

Self und Sinclair sind in Psychogeografie beide mit einem Text vertreten. Self geht zu Fuß den Weg von seiner Südlondoner Wohnung zum Flughafen Heathrow und zeichnet dabei Impressionen eines Wegs auf, der üblicherweise nur mit Auto, Bus oder U-Bahn zurückgelegt wird. Sinclair geht in V-Form vom Ostlondoner Stadtteil Hackney bis Greenwich Hill und sammelt „die Botschaften an den Wänden, Laternenpfählen und Türpfosten“. Beides sind Versuche, sich entgegen etablierten Mustern durch die Stadt zu bewegen und dabei neue Verbindungen aufzuzeichnen. „Vorsätzliches Treibenlassen“, so heißt es bei Sinclair, „ist der empfohlene Modus, wach träumend die asphaltierte Erde streunen und der Fiktion eines darunter verborgenen Musters die Möglichkeit geben, sich zu offenbaren.“

In den letzten Jahren wurde oft darauf hingewiesen, dass der Flaneur noch immer vor allem männlich und weiß sei und das unbehelligte Bewegen im öffentlichen Raum ein Privileg des weißen Mannes. Die Autorin Lauren Elkin verhalf in ihrem Buch Flâneuse (btb 2018) weiblichen Stadterkunderinnen wie Jean Rhys oder Agnès Varda zu ihrem Platz in der Kulturgeschichte. Auch die Anthologie Flexen (Verbrecher Verlag 2019, siehe Freitag 34/2019) setzt dem männlich geprägten Blick auf die Stadt eine Vielzahl bisher unterrepräsentierter Perspektiven entgegen. Psychogeografie knüpft an diese Diskussionen an. In ihrem Text Gehen und Macht beschreibt Aminatta Forna, wie sich gesellschaftliche Machtstrukturen im öffentlichen Raum manifestieren: „Auf der Straße überschneiden sich Ethnie und Geschlecht, die Herrschaft von Männern über Frauen, Weiß über Schwarz.“ Anekdotisch zeigt Forna die männliche „Blickhoheit“ – und betont, dass Spazierengehen in der Stadt für Frauen auch „ein Akt des Widerstands gegen die männliche Autorität“ sein kann.

Touristen nett verarschen

Der vielleicht beste Text der Sammlung ist Garnette Cadogans Essay Ein Schwarzer geht durch die Stadt. Bereits während seiner Jugend im Jamaika der 1980er entwickelt Cadogan eine Begeisterung für Erkundungen zu Fuß: „Kingston mit all seinen kulturellen, politischen und sozialen Ereignissen wurde für mich ein komplexer, oft bizarrer Stadtplan, als dessen Nachtkartograf ich mich berufen fühlte.“ Als er zum Studieren in die USA zieht, verliert das Spazieren die gewohnte Selbstverständlichkeit. Einschneidend beschreibt Cadogan den alltäglichen Rassismus, misstrauische Blicke von Passanten und Polizeiwillkür. „Der Bürgersteig“, heißt es über New Orleans, „war ein Minenfeld, jedes Zögern ...beschnitt meine Würde. Trotz all meiner Bemühungen fühlte sich die Straße nie angenehm, nie sicher an. Selbst ein einfaches Grüßen war verdächtig.“ Auch der Umzug in die liberale Hochburg New York ändert daran wenig. Wie Cadogan über sein ambivalentes Verhältnis zur Stadt nachdenkt und persönliche Erlebnisse mit Reflexionen über Walt Whitman und James Baldwin verknüpft, liest man gebannt.

Man hätte sich noch mehr Beiträge in diesem Band gewünscht, die Orte außerhalb Europas und Nordamerikas in den Blick nehmen. Das Vorhandene ist aber durchweg interessant, Anja Kümmels Text Gegen die Zeit ebenso wie der Auszug aus Henri Lefebvres Klassiker Das Recht auf Stadt. Der Ton reicht dabei von spielerisch bis subversiv. Das Künstlerkollektiv Wrights & Sites verbindet beides. Man sollte in jeder Stadt ein „Touristen-Desinformationszentrum“ einrichten, heißt es da, um „Besucher einzuladen, die Stadt neu zu gestalten, statt sie zu konsumieren“. Das möchte man nach der Lektüre von Psychogeografie auch tun.

Info

Psychogeografie Anneke Lubkowitz (Hg.) Matthes & Seitz 2020, 239 S., 22 €

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