Archäologie der Lügen

Krimi Seelenruhig und gnadenlos trägt Tana French die Fassade eines reichen Sonnyboys ab
Ausgabe 15/2019
Früher war alles besser
Früher war alles besser

Foto: George Marks/Retrofile/Getty Images

Nachdem er in seiner Dubliner Wohnung überfallen und schwer verletzt wurde, braucht der 28-jährige Toby Hennessy eine Auszeit, darum zieht er ins Haus seiner Großeltern. Es ist die Rückkehr an einen Ort, den Toby ausschließlich mit positiven Erlebnissen verbindet. Zahllose Ferien hat er im „Efeuhaus“ mit Cousine Susanna und Cousin Leon verbracht. Umso erschütternder ist für ihn, als in der Höhlung einer alten Ulme die Leiche eines ermordeten Schulkameraden gefunden wird: Dominic; alle hatten angenommen, er hätte vor vielen Jahren Selbstmord begangen. Toby ist gezwungen, seine Erinnerungen zu hinterfragen, denn dieser Mord bleibt nicht das einzige Ereignis, das ihm den Boden unter den Füßen wegzieht.

Man kann Tana Frenchs Kriminalroman Der dunkle Garten – im Original treffender The Witch Elm – als Erkundung von Identität, Herkunft und eines Familiengeheimnisses lesen. Damit würde man allerdings den fast 700 Seiten langen Roman und die 1973 geborene Beststellerautorin aus Dublin in ihrer Vielschichtigkeit unterschätzen. Auch wenn Cover und Titel es nahelegen: Tana French schreibt alles andere als seichte Landhauskrimis, die in dunklen Gärten spielen. Stephen King sagt, French schreibe „in der besonderen Zone zwischen Spannung und Literatur, mit einer Sprache wie Satin“.

Schon ihr erster Roman aus dem Jahr 2007 machte dies deutlich: Grabesgrün – im Original lautet der Titel beziehungsreicher In the Woods – schert sich kaum um Genrekonventionen: Fragen bleiben ungeklärt, der Ich-Erzähler erklärt unmissverständlich, dass er lügt und somit unzuverlässig ist. Auch die weiteren Romane der Reihe bleiben auf diesem Kurs: Geschrieben aus einer konsequent nicht auktorialen Perspektive ist die „Wahrheit“ immer abhängig vom Blickwinkel, wird beeinflusst von den Vorurteilen, Ängsten und Erfahrungen der Erzählerinstanz. Verklammert werden die Romane von einem lose zusammenhängenden Ensemble, den Ermittlern der Dubliner Mordkommission. Hauptfigur ist jeweils jemand anders, eine Nebenfigur aus einem anderen Roman oder eine ganz neu eingeführte Person. Action, viele Morde oder forensische Spielereien sucht man bei der amerikanisch-italienischen Schriftstellerin vergeblich. Zentral sind hingegen die Verhöre: Immer und immer wieder werden Verdächtige befragt, Zeugen interviewt, Schicht um Schicht werden Lügen und geschönte Fassaden abgetragen, bis durch eine Geste, eine Bemerkung ein Riss in der Oberfläche entsteht, durch den die trübe Wahrheit sickert. Das ist oft langwierig, es sind die psychologischen Studien, die auf die Folter spannen.

Denn selten sind spektakuläre Ereignisse oder singuläre Geschehnisse die Auslöser für Verbrechen. Weit mehr interessiert sich Tana French dafür, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen in den Einzelnen einschreiben, Anpassung und Unterordnung verlangen – und wie daraus unausweichlich die Katastrophe erwächst.

Besonders eindringlich ist dies in Schattenstill von 2012 – wieder ist der Originaltitel besser: Broken Harbour – zu sehen: Mantrahaft wiederholen alle Figuren den Satz „Ich will es richtig machen“ – den Job, die Partnerschaft, die Familie, die Kindererziehung. Die daraus resultierende beunruhigende Konformität bei gleichzeitig wachsender Angst vor sozialem Abstieg führt vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise zur Gewaltexplosion.

So also fühlt sich Verlieren an

Auch Der dunkle Garten ist eine scharfsinnige Analyse der westlichen Gesellschaft. Dieses Mal sind die Ermittler der Mordkommission Dublin nur Randfiguren. Im Mittelpunkt steht Toby. Er muss erstmals in seinem Leben erfahren, wie es ist, unterlegen zu sein. War er zuvor ein Sonnyboy, der sich mit Attraktivität und Geld gut durchlavieren konnte, hat ihm der Überfall jegliche Selbstsicherheit genommen. Körperlich wie geistig eingeschränkt, fühlt er sich zum ersten Mal abhängig und ausgeliefert. French zeigt ihren Protagonisten zunächst als Vertreter der privilegierten Klasse: männlich, weiß, hetero, vermögend, sich selbst als Maßstab setzend. Erst durch den Verlust dieser Privilegien erkennt Toby, wie stark diese seine Wahrnehmung geprägt haben, seine Selbstgewissheit bröckelt.

Für Susanna und Leon war die Schulzeit alles andere als unbeschwert, als Frau und als Schwuler waren sie Mobbing und sexueller Gewalt ausgesetzt – Ereignisse, die Toby damals kaum wahrgenommen und allenfalls bagatellisiert hatte. Und treibende Kraft hinter den Übergriffen war der Schulkamerad Dominic. Die Suche nach den Hintergründen des Mordes an ihm gerät für Toby zu eine schmerzhaften Auseinandersetzung mit der früheren Arroganz und Blindheit sowie mit den Schuldgefühlen, die daraus entspringen.

Der dunkle Garten ist Frenchs erster Stand-Alone nach sechs Bänden der Dublin-Murder-Squad-Reihe. Dank Tana Frenchs striktem Blick auf das Individuum ist daraus ein tiefgründiger Kriminalroman geworden, der die alltägliche Misogynie und Homophobie reflektiert, der die männlich dominierten Weltsichten hinterfragt.

Info

Der dunkle Garten Tana French Ulrike Wasel und Klaus Timmermann (Übers.), Scherz 2018, 656 S., 16,99 €

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