Deleuze träumt

Theorie Klaus Birnstiel hat das Standardwerk zum Poststrukturalismus geschrieben. Die Denktradition lebt – vor allem durch ihre Leitideen
Ausgabe 11/2017

Wer erinnert sich noch, bald 50 Jahre nach 1968, an die Rolle, welche Philosophie, Theorie und Literatur in jenen Jahren spielten? Kein studentischer Kneipen-Guerillero, keine links-bewegte Friedensaktivistin kam damals ohne Camus aus, die Befreiung des „Trikont“ war nicht zu haben ohne Mao Zedongs rotes Büchlein. Selbst in der tiefen Provinz westdeutscher Kleinstädte versenkten sich revolutionär gestimmte Oberschüler allabendlich in ihren Marx. Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, dazu die unvermeidliche Frankfurter Schule der heimgekehrten Exilierten Adorno und Horkheimer, sie alle sorgten für den Tiefsinn der Gesellschaftskritik. Frankreich war der Ort lebendiger philosophischer Produktivität.

Während Sartre und andere im Namen von Humanität und Sozialismus beinahe täglich medienwirksam für die Sache des Proletariats und der vom Kolonialismus unterjochten Völker eintraten, erlebte das intellektuelle Feld Frankreichs gleich zwei Umgestaltungen in rascher Folge: zunächst waren es die empirisch orientierten Wissenschaften der Soziologie und der Ethnologie, welche dem humanistischen Pathos der Existenzialisten die nüchterne Analyse der Formierungen menschlichen Zusammenlebens entgegenhielten. Die strukturale Linguistik Moskauer und Prager Provenienz wurde zum Erkenntnismodell der Humanwissenschaften schlechthin.

Großkonflikte mit Wucht

Statt tiefsinniger Wesensfragen stellte sie auf die schlichte Beschreibung von kulturellen Formen ab, und unter ihrem Leitstern schien alles erklärbar. Der Tanz der Geschlechter? Ein regelgeleitetes Spektakel der Sicherung des Fortbestehens sozialer Großgruppen. Die Botschaften der Werbung? Einfache Manipulationen, so durchschaubar wie die gesamte ökonomische Logik von Ausbeutung und Unterdrückung. Der Mensch und seine Seele? Lesbar wie ein offenes Buch, dessen Schrift eine zum intellektuellen Kult aufgestiegene Psychoanalyse scheinbar mühelos zu entschlüsseln vermochte. Als Kreuzung aus Ingenieur und Arzt mit Brille, Kittel und Notizblock ausgestattet, wurde der Geistes- und Sozialwissenschaftler zum Helden einer Epoche, deren geradezu naivem erkenntnistheoretischem Optimismus alles erklär- und letztlich auch verbesserbar erschien.

Der große Knall der Jahre 1967 und 1968 und der folgenden vertrieb diesen szientifischen Optimismus. Nicht nur waren alte, bereits überwunden geglaubte Gegensätze wie derjenige von Kapital und Arbeit als gesellschaftliche Großkonflikte mit Wucht auf die politische Bühne zurückgekehrt. Das unter den Bannern von Fortschritt und Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg in Teilen verdrängte Problem des Kolonialismus rückte in Form des Indochina- und dann des Algerienkriegs zurück ins allgemeine Bewusstsein, und hatte die studentische Revolte eigentlich in einer Niederlage geendet, so fand sich ein wachsender Teil der urbanen Bevölkerung, Frauen und Jugend vorneweg, nicht mehr bereit, sich in die patriarchalen Ordnungen zu fügen. Straßenkampf statt Theorie lautete die Marschrichtung der späten 1960er und frühen 70er. Doch gelang es einigen der führenden Köpfe der strukturalistischen Denkbewegung vor dem Hintergrund der Erfahrungen um 1968 auf bemerkenswerte Weise, ihr intellektuelles Projekt neu zu justieren. Außerhalb Frankreichs schon bald als „Poststrukturalisten“ bezeichnet, lieferten sie nun ein weniger lichtvolles Bild der menschlichen Gesellschaft, betonten Brüche und Ausschlüsse – und faszinierten damit ein noch immer kämpferisch gestimmtes Publikum.

Woche für Woche erklärte Michel Foucault seinen Zuhörern im Collège de France, wie der moderne Staat über Jahrhunderte versucht hatte, allumfassende Kontrolle über seine Bewohner zu gewinnen. Wenige Straßen weiter hypnotisierte Doktor Lacan sein Pelzmantelpublikum mit verstiegenen Betrachtungen über Psyche und Begehren, während die spät zu ihrer Rolle gekommenen angry young men Gilles Deleuze und Félix Guattari Marxismus und Psychoanalyse gemeinsam kurzerhand auf den Müllhaufen der Geschichte verbannten. Mit Heidegger im Gepäck rief Jacques Derrida zur „Dekonstruktion“ der abendländischen Denktraditionen auf.

Bastelecke der digitalen Welt

Insgesamt arbeiteten sich die Poststrukturalisten an einer alteuropäischen Kultur ab, die sich nach den Katastrophenerfahrungen des Jahrhunderts ohnehin fremd geworden war. Seien es die Auseinandersetzungen um Gefängnisse oder Psychiatrie, sei es der Streit um das Recht auf Abtreibung oder um die Anerkennung sexueller Minderheiten: immer dort, wo sich marginalisierte Gruppen Gehör zu schaffen versuchten, fanden sie im Ideenbestand des Poststrukturalismus Munition.

Die 1980er schließlich erlebten den Niedergang der kritischen Öffentlichkeit und mit ihr der Theorie gleich mit – und bezeugten die Verwandlung der kritischen Philosophie des Poststrukturalismus in ein akademisches Kleingewerbe. In Deutschland dauert dieser Prozess bis heute an. Dass ein knackiges Foucault-Zitat noch immer so manche Proseminararbeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften ziert, mag kaum als Beweis für die gegenwärtige Lebendigkeit der Theorie dienen. Die Rede vom Rhizomatischen, mit der Deleuze und Guattari die nichthierarchische Verknüpfung von Wissensgehalten in ihrer medialen Gegenwart der 1970er beschrieben, findet sich heute im Marketingsprech jeder mittelmäßigen Kommunikationsagentur. Die Helden der Theorie sind fast alle gestorben oder hochbetagt, und ihre Schüler erinnern sich im Moment des eigenen Renteneintritts nostalgisch an die „wilden Jahre des Lesens“ (Ulrich Raulff).

Ist die Theorie des Poststrukturalismus, ein halbes Jahrhundert nach ihrer Heraufkunft, also an ihr endgültiges Ende gelangt, bereit zur ewigen Wiederkehr im Geisterreich der akademischen Untoten? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Theorie im Moment eine unerwartete Renaissance erlebt – wenn auch nicht immer unter dem Namen des Poststrukturalismus, so doch unter seinen Leitideen. Als Philosophie der Differenz findet der Poststrukturalismus noch immer Resonanz bei all jenen, welche das endlose Spiel der Ausschlüsse und Abgrenzungen, der Zurückweisungen und Verletzungen menschlicher Gesellschaft zumindest nicht kommentarlos übergehen wollen – oder gar in ihrem Sinne zu verändern versuchen. In Zeiten, in denen die Gemengelage aus globalen Krisen und Migrationsbewegungen und ihre zunehmend schrille politische Begleitung an der gefühlten Heimatfront viele intellektuelle Beobachter schlicht verzweifeln lassen, erinnert die Rückbesinnung auf das poststrukturalistische Geschichtsverständnis Michel Foucaults mit seiner Betonung der steten Kämpfe und der Brüche schlicht daran, dass die Lage früher auch nicht übersichtlich gewesen ist – und dass sich, wer Position bezieht, mit dem Gedanken anfreunden muss, sich die akademischen Ärmelschoner schmutzig zu machen.

Die elektronische Lebenswelt

Von Occupy Wall Street bis zum Katz-und-Maus-Spiel an den Grenzen der Festung Europa auf dem Balkan und dem Mittelmeer greifen Aktivistinnen und Aktivisten in den Werkzeugkasten poststrukturalistischer Guerillataktiken, um das Getriebe des herrschenden Mahlstroms zumindest ein bisschen durcheinanderzubringen. Ein aus den reichen Quellen der verbundenen Traditionen von Poststrukturalismus und Feminismus gespeister neuer Feminismus, wie ihn etwa Laurie Penny vertritt, dekonstruiert die tagesaktuellen Formierungen der Geschlechter-Ungerechtigkeit in einer Sprache, die auch die Kinder des Internet-Zeitalters verstehen.

Überhaupt, die elektronische Lebenswelt: Wären Deleuze und Guattari noch am Leben, man würde sie vermutlich eher in den Weiten des Netzes finden als in einem Hörsaal, in einer Bastelecke der digitalen Welt, beschäftigt mit kleinen hacks des politischen Mainstreams.

Ein bisschen Theorie to go findet sich heute in der bildenden Kunst ebenso wie im Selbstverständnispapier des veganen Mittagscafés um die Ecke, und im Zeitalter des Postfaktischen sind es die kontrovers diskutierten politischen Theorien post-poststrukturalistischer Spätlinge wie Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek, auf die zurückgegriffen wird, um wieder ein bisschen intellektuellen Boden unter die Füße zu bekommen. Aus dem Erbe des Poststrukturalismus, seiner großen Erzählung vom Anderen der europäischen Kultur und Zivilisation, erwächst heute ein Strauß kleiner Erzählungen, die vom Anderen berichten, vom Gegenstrebigen und Widerständigen. Theoretisch eloquent, suchen sie den Bezug zur unmittelbaren Gegenwart um uns herum.

Theorie kommt heute nicht mehr nur in Suhrkamp- oder Merve-Bändchen daher, sie findet sich in Blogs ebenso wie in Uni-Seminaren, in den letzten Rückzugsräumen linker Subkultur und im Kunstbetrieb. Poststrukturalistische Theorie geistert durch die ebenso aufsehenerregenden wie umstrittenen Aktionen des Berliner Zentrums für Politische Schönheit. Sie findet sich auf Diskussionsplattformen wie feministcurrent.com und critical-theory.com. Noch immer werden die Denker des Poststrukturalismus als Heilige der Theorie verehrt. Die Lage der Dinge, wie man so sagt, gibt Anlass, sie von ihrem Sockel herunterzuholen und dorthin zu stellen, wo sie eigentlich hingehören: in die Auseinandersetzungen, die Debatten und die Kämpfe unserer Gegenwart.

Dr. Klaus Birnstiel ist Jahrgang 1983. Seit 2011 lehrt er am Deutschen Seminar der Universität Basel. Diesen Winter erschien von ihm im Wilhelm Fink Verlag Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus (491 S., 69 €)

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