Algorithmen sind mein Leben

Digital Begabte Google, Datenschutz und Politbarometer: Die Welt hat eine mathematische Grundlage. Aber gilt Mathematik noch als lebensferne Streberdisziplin? Eine Spurensuche

Wie würde ein Partygespräch über Mathematik beginnen? "Du, Alter, der Tangens hat mich so dermaßen berührt." So vielleicht? Oder mit der Berechnung des Volumens der Nudelsalatschüssel?

Wenn man über Mathematik redet, sagt jedenfalls die Mathematikstudentin Anne Kahnt, "kann man sich schon gut isolieren auf jeder Party". Man kann sich das durchaus vorstellen. Dass Mathematik das Ende einer Unterhaltung sein kann, das galt wohl schon, als der Mathematiker Blaise Pascal im 17. Jahrhundert mehr Entertainment von seiner Disziplin einforderte. Heute gilt es immer noch.

Und doch: Es hat sich etwas verändert im gesellschaftlichen Ansehen der Mathematik. Keine so lebensfern wirkende Wissenschaft ist so spürbar in den Alltag eingedrungen wie sie und ihre praxisnäheren Verwandten, etwa die Informatik: Facebook ist Tagesgespräch; Datenschutz ist Tagesgespräch bei Facebook; der Google-Algorithmus ist das Ordnungssystem des Weltwissens; 16-Jährige hacken Websites von Konzernen. Es gibt Sinusmilieus und Dreiecksbeziehungen, und Politiker feuern mit Statistiken. Vielleicht nie zuvor war für jeden Mathe-Versager so offensichtlich wie jetzt, dass die Welt eine mathematische Grundlage hat. Wie alltäglich aber, wie lebensnah ist diese abstrakt-komplexe Disziplin, die mit Gegenwart und Zukunft so eng verwoben ist?

Das einzige Mädchen

Ein Büro im Dachgeschoss des Physikgebäudes der FU Berlin. Hier arbeitet Anne Kahnt, 23, mit zwei Kollegen und einer Kaffeemaschine an der Verbesserung des Rufs ihres Fachs. Zu Schulzeiten war sie das einzige Mädchen im Mathe- und im Physik-Leistungskurs. Heute, sie studiert noch, führt sie mit Tobias Pfeiffer und Simon Krohn eine kleine Firma, vismath, die Mathematikbücher und -filme oder Rhomben-Ikosidodekaeder-Bastelbögen vertreibt.

Möglich wurde die Gründung durch ein Stipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. "Mathematik ist heute sehr erwünscht", sagt Tobias Pfeiffer – genau wie Informatik, Naturwissenschaften und Technik, kurz, MINT. "Was die Wirtschaft gerne haben möchte, ist klar", sagt er: MINTler. Das MINT-Meter, das die Zahl der fehlenden Fachkräfte misst, zeigte im Januar die Zahl 96.000. "Die Generation Praktikum kenne ich persönlich nur vom Hörensagen", sagt Pfeiffer. Der 24-Jährige absolviert nicht ein Praktikum nach dem nächsten, er hat seine GmbH.

Ist Mathematik auch im Alltag angekommen? Man dürfe, sagt Anne Kahnt, Mathematiker nicht mit Informatikern verwechseln. "Es gibt Mathematiker, die nie einen Computer benutzen." Fragt man den Münchner Physikprofessor Harald Lesch nach der Bedeutung von Mathematik und nennt Beispiele aus der Informatik, sagt auch er: "Vorsicht, Sie können achtkantig aus dem Mathe-Institut fliegen, wenn Sie Mathematiker und Informatiker gleichsetzen."

Dennoch: Mathematik und Computerspezialistik gehören zwar nicht im Fachbereich jeder Universität zusammen, aber wenn man betrachtet, was die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus und was die mathematisch angehauchten Gegenwartsfiguren ausmacht, sind sie nicht exakt voneinander zu trennen. Wenn etwa, ganz unakademisch, von Nerds die Rede ist, wird die Verbindung zwischen Mathematik und digitalem Leben bereits mitgedacht: Jene sind gemeint, die in der Schule gut in Mathe und schlecht in Sport waren, und die ihren Alltag heute mit Computerproblemen pflastern, um sich mit deren Lösung die Zeit zu vertreiben.

Beim Stichwort Nerd schaut Anne Kahnts Kollege Simon Krohn über den Monitorrand: "Vor fünf Jahren war der Begriff noch negativ besetzt", sagt er. "Heute weiß jeder, dass es gut ist, einen zu kennen." Zum Beispiel weil man dann jemanden hat, der eine E-Mail-Verschlüsselung einrichten kann, die ihren Namen verdient.

Hacker, das Gesicht der Rebellion

"Diese Strukturwissenschaft", sagt Harald Lesch, der an der LMU München Astrophysik lehrt – und er meint Mathematik –, "verändert unseren Alltag auf eine Weise, dass es nur so rappelt. Da sind wir froh, dass sich in der digitalisierten Welt jemand findet, der durchsteigt." Lesch moderiert für den Bayerischen Rundfunk und das ZDF Wissenschaftssendungen, weil er komplizierte Dinge idiotensicher erklären kann. Andererseits "hat man doch immer noch Angst vor denen", sagt er. "Die machen irgendeine Tastenkombination, und plötzlich läuft der Kasten wieder."

Der Nerd als Magier der Gegenwart: In diesem Sinne ist er ein Nachfolger des Börsenverstehers, dessen unheimliches Spezialwissen in den achtziger Jahren in Filmen wie Wall Street thematisiert wurde. Heute sitzen Finanzmanager zwar nach wie vor an gesellschaftlichen Knotenpunkten, sind aber durchschaubarer.

Nerds und Hacker wurden dagegen erst vor kurzem öffentlich wahrgenommen. Mit The Social Network und Inception haben zwei Filme Oscars gewonnen, in denen Computerfreaks prominente Rollen spielen. Mit Wikileaks-Gründer Julian Assange oder fiktiven Figuren wie Lisbeth Salander aus Stieg Larssons Krimis sind Hacker das Gesicht der Rebellion geworden. Und das verbindende Element – sogar der Finanzmanager ist dann wieder eingeschlossen – ist die mathematische Begabung.

Ein Besuch bei Mathematik-Professor Alexander Mielke, der im Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik die Forschungsgruppe "Partielle Differentialgleichungen" leitet. In Berlin hat im Februar die Weltvereinigung der Mathematiker (IMU) ihr weltweit einziges Büro eröffnet. Mielke leitet es. Auf seinem Regal im Weierstraß-Institut steht ein hölzerner Rechenschieber, im Regal liegt ein Rubiks-Würfel. Auf die Frage, ob die Bedeutung von Mathematik gestiegen sei, sagt er, zusammengefasst, zweierlei. Erstens: "Nicht jeder kann ein Mathe-Genie sein", und er beobachte eigentlich keinen Anstieg des gesellschaftlichen Gesprächs über im weitesten Sinn mathematische Problemstellungen. Und zweitens fragt er: Ist die Rolle denn überhaupt gestiegen? "Früher haben wir Buchstaben verarbeitet, heute eben Bits und Bytes", sagt er. "Natürlich gibt es überall Algorithmen. Aber ein Algorithmus ist ja nichts anderes als ein schematisierter Handlungsablauf. Jede Bedienungsanleitung ist ein Algorithmus. Und ob ich ein Fahrrad oder ein Handy benutze, das ist, so betrachtet, egal."

Vielfältiger heißt komplexer

Also kein Wandel? Er überlegt. "Ich sehe kaum qualitative Sprünge", sagt er, der lieber in Strukturen als in Zahlen denkt. "Aber man kann sagen, dass es eine größere Vielfalt gibt. Die Menge von Daten und Entscheidungen, die jemand manipulieren kann, ist um ein Tausendfaches größer als vor Jahren." Und weil vielfältiger auch komplexer heiße, sei die Gesellschaft abhängiger und empfindlicher, sagt Mielke. "Man kann es sich nicht mehr leisten, auf die Nerds nicht zu hören."

Von Leuten, die "digital begabt" sind, spricht der Münchner Nervenarzt und Systemforscher Felix Tretter. Er meint vor allem solche, die "besonders gut sind in abstrakten Operationen mit Zeichen". Die hätten heute, da der Umgang mit jedem Fahrkartenautomat eine leichte Technikaffinität erfordert, Vorteile.

Vor einigen Jahren hat Tretter eine "Summer school" für Gymnasiasten initiiert, damit sie verstehen, warum Mathematik so wichtig ist. "Mathematik hat eine Schlüsselrolle bekommen", sagt er. Wenn etwa im Qualitätsmanagement "alles skaliert" werde, handle es sich zwar um "eine durchgehend triviale Mathematisierung, aber immerhin um eine Mathematisierung in der betrieblichen Organisation". Doch nicht nur im Berufsleben lasse sich der Aufstieg des digital Begabten erkennen. Mit einer Begabung in digitaler Logik, so Tretter, "können sich Jugendliche heute großes Ansehen erwerben – das lässt sich im Schulsektor sicher beobachten".

Hinter der Benutzeroberfläche

Ein Anruf an meiner Schule. Anfang der Neunzigerjahre leitete der Mathematik- und Physiklehrer Antony Trunzer meinen Informatikkurs. "Damals", sagt er, "hatten wir Lehrer einen Wissensvorsprung vor den Schülern." Tatsächlich waren es Lehrer, die 15-Jährige ins Innenleben des Computers einwiesen. Er erinnert an ein paar überholte Realitäten: keine grafische Benutzeroberfläche, keine Maus.

Und heute? Gebe es immer noch Schüler, die Schwierigkeiten bekämen, "wenn etwas nicht über die angebotenen Benutzeroberflächen geht". In der Tendenz aber, so Trunzer, "sind die Schüler weit überlegen. Wenn man im Computerraum Anwendungen sperrt – die Schüler finden einen Weg drumherum. Und wenn sie ihn nicht finden, wissen sie, wen sie fragen müssen."

So erwächst die Beliebtheit des digital Begabten schon aus seiner Unabkömmlichkeit. Daraus, dass er Dinge kann, die man selbst gerne könnte. "Die Leute vom Chaos Computer Club zum Beispiel sind schon angesehen jetzt", sagt Tobias Pfeiffer von der FU Berlin. Leute wie sie beraten mittlerweile offiziell die Politik, weil sie ein paar wesentliche Dinge erklären können, etwa: Was geschieht in der digitalen Welt mit unseren Daten? Weil sie eine Schlüsselqualifikation besitzen, die politische Berater schon immer brauchten: hinter die Oberfläche der Dinge zu schauen, in diesem Fall hinter die Benutzeroberfläche.

Dass man sich freilich, wie Anne Kahnt sagt, "unter einem Nerd nach wie vor nicht unbedingt einen hübschen jungen Mann vorstellt", mag ein Klischee sein, passt aber ins Bild: Die digital Begabten sind, jedenfalls verglichen mit all den anderen ehemaligen coolen Hunden vom Popper zum Pimp, wenig an Oberflächen interessiert.

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