Thilo Sarrazin Thilo Sarrazin denkt nicht daran, sich eine Mediensperre aufzuerlegen. Er diskutiert lieber weiter auf Demographie-Podien mit - und probt nebenbei die Märtyrerrolle
Es gibt einen Moment an diesem Montagmorgen, den man an Fernsehbildschirmen nicht erleben kann, nicht am Radiogerät, nicht bei der Zeitungslektüre. Es ist der Moment, in dem sich die mediale Inszenierung als integraler Bestandteil der Debatte entpuppt: Als Thilo Sarrazin erstmals den Mund aufmacht, beginnt ein Klickkonzert im Mezzoforte. Alle Fotografen haben auf den Moment gewartet, in dem er sein Gesicht einschaltet, und dann gleichzeitig den Auslöser gedrückt.
Sarrazin ist der Autor eines seit Wochen intensiv diskutierten Buchs über misslungene Integration und Hängemattenbaumler. Er zeichnet ein demographisches Szenario, in dem sich die Gesellschaftspyramide zum Döner verformt. Er hat sich dabei, von allen inhaltlichen Details abgesehen, so stark im Ton
ark im Ton vergriffen, dass der Vorwurf der Xenophobie leicht zu rechtfertigen ist. Er hat Unterstützung bekommen für seine Ausführungen und viel Contra. Es ist die Rede davon, dass er die Nation spalte.Er wolle „jetzt erst einmal in Deckung gehen“, hatte der Spiegel am Tag zuvor noch geschrieben. Nach zwei Talkshowauftritten in der ARD habe er sich selbst eine „‚Mediensperre‘ auferlegt“. Aber das stimmt nicht, auch der Spiegel kann nicht immer Recht haben. Sarrazin hat mit einem anderen Magazin gesprochen, außerdem nimmt er auch an einer Podiumsdiskussion von Deutschlandradio Kultur teil, abgehalten auf einem Demographiekongress in Berlin, live im Hörfunk übertragen. Neun Kamerateams haben Stative aufgebaut. Die Liste der akkreditierten Journalisten umfasst mehrere Din-A-4-Blätter.Und alle sind da wegen Sarrazin.Er trägt seine runde Brille mit dunklem Gestell, die dem Gesicht, je nach Interpretation, etwas Professorales oder einen Tunnelblick verleiht. Er macht kein Victory-Zeichen, als er aus dem Fahrstuhl tritt, er grüßt nicht. Ohne erkennbare Mimik, abgeschirmt von einigen großen Männern in Anzügen, die ihm mit ihren Armen wie mit Macheten den Weg freischaufeln, geht er in den Saal und setzt sich auf seinen Platz. Wenn man die Welt nur mit Google Earth wahrnehmen könnte, aus einer Warte also, die nur Bilder ohne Zusammenhang vermittelt, käme man kaum darauf, dass hier ein Bestsellerautor zur Bühne geht. Es würde aussehen, als handle es sich um die Ankunft eines mutmaßlichen Straftäters in einem Schauprozess.Der potenzielle MärtyrerEs gibt aber nicht nur die Bilder. Es gibt auch die, die sie erzeugen. Dass Sarrazin sich nicht benimmt wie ein Bravo-Posterboy, ist bereits ein wesentlicher Teil seiner Strategie, jener Held zu werden, der die Dinge beim Namen nennt und vom vermeintlich linken Mainstream dafür gemobbt wird. Er ist der potenzielle Märtyrer, seit die SPD diskutiert, ihn auszuschließen; seit die Bundesbank, zu deren Vorstand er gehört, ihn rauswerfen will; und seit der Bundespräsident, der über seinen Rauswurf letztlich entscheiden muss, sich in die Diskussion auf eine Art eingemischt hat, als wäre er irgendein Ministerpräsident, der halt auch mal was sagen will.Am Morgen vor der Podiumsdiskussion rief Sarrazin im Interview den Bundespräsidenten auf, sich nicht an einem „Schauprozess“ gegen ihn zu beteiligen. Das ist jetzt seine Rolle: Er will entweder seine Posten behalten. Oder als Märtyrer gehen.Man kann noch mehr mitnehmen von der Podiumsdiskussion: Sarrazin sprach in einem anderen Interview davon, dass es ein jüdisches Gen gebe. Was man lernt: Das passiert ihm nun auch nicht ständig. Er sagt an diesem Tag nichts nervenaufreibend Dummes. Er sagt nur nichts Kluges.Was wiederum zur Erkenntnis führt: Sarrazin ist eigentlich kein ernstzunehmender Diskussionsteilnehmer. Es geht an diesem Morgen um „Migration und demographischen Wandel“. Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth diskutiert mit, Migrationsforscher Klaus J. Bade, Sevim Dagdelen, migrationspolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion, und August-Wilhelm Scheer, Präsident eines Informationswirtschaftsverbands mit langem Namen. Sarrazin wäre in dieser Runde eigentlich der geeignete Kandidat für die Betroffenheitscouch, die eine Zeitlang in einer Fernsehtalkshow herumstand. Denn der Diskurs ist weiter, als Sarrazin behauptet. Was er von sich gibt, ist Befindlichkeit, aufgepimpt durch seine Visitenkarte, die ihm Relevanz bescheinigt, und durch die Zahlen, die er zusammengetragen hat, um falsche Schlüsse daraus ziehen zu können."Es gibt nicht die Migranten"Er bekommt einmal ein wenig Applaus aus dem Saal, als er beklagt, dass türkische Kinder nicht zu deutschen Kindergeburtstagen kämen. Und einmal, als er sagt: „Es gibt nicht die Migranten“, entschließen sich seine Mitdiskutanten zu einem sachten Nicken. Als er aber konkretisiert, es gebe Italiener, Inder, Griechen, aber nur „die Türken“ seien nicht integriert, schlägt das Nicken in Kopfschütteln um. Sarrazin identifiziert Kulturkreise und spielt sie gegeneinander aus, wie es subtiler Samuel Huntington gemacht hat, dessen Kampf der Kulturen nach dem 11. September 2001 den Diskurs mitprägte. Politikwissenschaftler Huntington unterschied sechs bis acht Kulturkreise. Statistiker Sarrazin unterscheidet an diesem Morgen „muslimische Migranten“ und den Rest.Vielleicht zeigt die kleine Szene, in der die Diskutanten, von Süssmuth bis Dagdelen, vom Nicken in Ablehnung rutschen, das Geheimnis von Sarrazins Erfolg: Dass sie sofort reagieren wollen, liegt nicht daran, dass er etwas Diskutierenswertes gesagt hätte. Sondern daran, dass man leicht in Versuchung gerät, gerade den größten Schrott nicht so stehen lassen zu wollen.Als einmal ein größeres ablehnendes Raunen durch den Saal geht, spricht nicht Sarrazin, sondern Dagdelen. Sie kritisiert, dass es in Deutschland einen „strukturellen Rassismus“ gebe. Dabei meint sie nur, dass Migranten qua Herkunft schlechtere Chancen hätten. Und Sarrazin ist der wandelnde Beweis, dass zumindest die Umkehrung stimmt: Man kann qua Herkunft gute Chancen bekommen. Bundesbankvorstand, ehemaliger SPD-Senator, das genügt, um ein ernstgenommener Diskussionspartner zu sein, unabhängig davon, wie viel Substanz hat, was man sagt.Sarrazin hat keine guten Argumente, nicht an diesem Tag. Er hat aber eine Visitenkarte.
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