Canaletto Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister. Ich bleibe vor einem Straßenpanorama stehen, auf dem unten rechts ein niedlicher Hund um eine Hausecke lugt. Ich knipse den Hund. Die Aufseherin ist ganz begeistert. „Canaletto“, sagt sie, „da sind immer Hunde drauf! Hunde und flatternde Tücher! Ganz typisch. Canaletto.“ Ich überprüfe die Angaben. Es gibt wirklich sehr, sehr nette Hunde auf dem Bild. Auch flatternde Tücher. Das Bild ist allerdings nicht von Canaletto. Canaletto hängt eine Wand weiter. Egal – endlich mal ein gutes Gespräch über Kunst.
Netzteil Am Tag, als alles zu Ende ging, traf ich im Bus einen Jungen, vielleicht zehn Jahre alt. Etwas Schweres tragend, schob ich mich in den Gang hinein, der Junge wollte mir seinen Platz anbieten, aber ich hatte einen anderen angesteuert. „Ich pflanze mich hierhin“, sagte ich.
„Dann kannst du nie mehr weggehen“, sagte der Junge.
„Kann ich doch“, sagte ich.
„Kannst du nicht“, sagte der Junge. „Wenn du dich gepflanzt hast, muss man erst die Wurzeln durchschneiden.“
Mir schauderte. Aber der Junge war nett. Wir saßen Rücken an Rücken, er erzählte mir Sachen, ich machte meine Späße, die Omas im Bus lächelten zufrieden. Eine Geschichte handelte von einem Unfall. Ein Flugzeug wurde auf einem Sattelschlepper über die Autobahn transportiert, der Schlepper kam von der Fahrbahn ab, das Flugzeug landete im Morast. Viel mehr erinnere ich nicht von unserem Gespräch, leider. Wir stiegen zusammen aus, der Junge wollte einkaufen gehen – so klein und schon alleine einkaufen. Wir sagten Tschüss. Ich trug meinen Rechner zum Computerladen, wo sie das ausgebrannte Netzteil gegen ein neues tauschten. Dann ging ich Cläre besuchen, meine Lieblingsbäckerin, in ihrem Bäckerladen. Es war nicht viel zu tun für sie, wir unterhielten uns lange, ich erzählte von meinem Rechner, sie erzählte von ihren Bildern. Dann ging die Tür auf und Eva kam herein. Sie hieß wirklich so. Es war wirklich so. Es war der Tag, an dem alles zu Ende ging. Ich weiß bis heute nicht, wo der Junge herkam.
Altenheim Ich hatte zwei feste Jobs in meinem Leben. Einmal in der Redaktion einer großen Tageszeitung. Und vorher als Zivi in der Altenpflege. Das war schon spannend, ein mehrstöckiges Haus voller knittriger, verwirrter, sozial überforderter Menschen ohne rechten Bezug zur Realität da draußen! Aber auch die Zeit im Altersheim war sehr lehrreich.
Kunst überleben „Es ist voll! Es ist voll! Es kommt niemand mehr rein!“ Sie haben dem Männchen eine Uniformjacke übergehängt, jetzt öffnet es im Halbminutentakt die schwere Tür zum Heiligsten, wo der große berühmte Haifischpräparator zwei neue Bilder hingehängt hat, selbst gemalte. Sobald das Männchen öffnet, drängt wie in Zombieapokalypsen von draußen der Mob, den es zum Erhabenen zieht. Aber es darf ja niemand mehr rein! Außer in zehn Minuten vielleicht! Am liebsten würde das Männchen die Tür gar nicht mehr öffnen, möchte abschließen, dreifach, möchte alle Lichter löschen und auch den Raum mit den Bildern gern fest zuklappen und nur noch zum Hintereingang raus, zur nächsten Fernsehkneipe, wo die Hertha heute Dortmund empfängt. Aber das sind Träumereien. Ständig wollen sie ja wieder hinaus, die ganzen Gutgekleideten, nach Geld geruchlos Stinkenden mit den Halbmodels in ihrer Begleitung. Entschlossen streben sie der Tür entgegen, nichts sieht man auf ihren Gesichtern, das etwa die Bilder des Haifischpräparators ausgelöst hätten, doch wo sie gehen, haben die Türen offen zu stehen. Und so ächzt das Männlein die schwere Holztür auf, so wenig es eben geht, und in Panik ruft es den Leuten entgegen: „Es ist voll! Es ist voll!“ Durch das Fenster staunen wir, meine schöne Begleitung und ich. Denn es ist nicht voll. Es ist gesittet bevölkert. Man stolziert umher zwischen den Bildern, man steht herum, damit die anderen später wissen, dass man hier herumgestanden hat. Dann fahren wir nach Kreuzberg. Da haben sie eine Galerie, groß wie eine Feuerwache oder Kirche, da haben sie einen richtig echten Türstehertypen, der aber jeden reinlässt, da drängeln sich die eher sogar noch Schöneren, wir kriegen Bier und Wein, schauen im mächtigen Kirchen-Obergeschoss die großen gemalten Bilder an, die technisch ganz gut gemacht sind und zwischen denen es viele schicke Schuhe und überraschende bunte Jacken (Richtung: orange) zu bestaunen gibt. Wir streunen wieder hinunter, erhaben und beschwingt, und während ich meiner schönen Begleitung die üppige Wartezeit in der Damenkloschlange mit Geplauder verkürze, tut es einen Riesenknall im Erdgeschoss-Ausstellungsraum: Da muss jemand gegen einen der entscheidenden Drähte gekommen sein, ist die viele Meter hohe Skulptur aus Stahlträgern tatsächlich zusammengekracht und sieht nicht uninteressanter aus als vorher. Überlebt haben alle! Ein schmunzelndes Amüsement rippelt sich durch die Menge, so etwas Anregendes hat man ja schon mindestens zwanzig Minuten nicht mehr erlebt, noch in der U-Bahn zum Schlesi sprechen die Kunst-Überlebenden davon mit leuchtenden Augen. Was ein hübscher Auftakt, das alles. Fast wären wir ja zu Tarkowski gegangen! Puh.
Luxa Imbissmann: „Kalt, wa?“
Ich: „Aber schön!“
Imbissmann (die Tür zuziehend): „Normal. Is’ Frühling. Muss schön sein.“
Info
Die FAZ hatte es früh geschnallt und gab ihm folgende Worte mit auf seinen weiteren Berufsweg: „Die deutsche Sprache, konnte man manchmal meinen, war jenseits der hochgenauen Beschreibungen und der plastischen Metaphern der eigentliche Gegenstand von Interesse und Zuneigung des Verfassers.“ Seit dem Sommer 2017 ist Klaus Ungerer Textchef des Freitag, und das ist auch gut so. Die hier abgedruckten Texte stammen aus seinem neuesten Buch Ist Frühling. Muss schön sein. Miniaturen aus zwei Jahrtausenden, erschienen bei periplaneta (154 S., 13,30 €)
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