Einhundertfünf Menschen

K-u-J-Bücher Karla Kuskin zieht ein Orchester samt Dirigenten an

Dieses Buch habe auch ihm neue Einsichten vermittelt, urteilt der Pianist Alfred Brendel. In der Tat: Das Orchester zieht sich an ist eine mehr als ungewöhnliche Sammlung von höchst vergnüglichen Einblicken. Kaum jemandem wird bei einem Konzertbesuch wohl schon einmal die Frage in den Sinn gekommen sein, wie die so harmonisch "aus einem Guss" vor sich hin spielenden Mitglieder des Klangkörpers eigentlich alle dorthin gekommen sind und was sie denn vorher gemacht haben. Karla Kuskin jedoch hat sich das gefragt.

Mit akribischer Lust stellt sie sich neben die Waschtische und Badewannen und beobachtet die genau 105 Orchestermitglieder bei ihren Vorbereitungen für den großen Abend. "Zwei Männer und drei Frauen lassen sich ein Schaumbad einlaufen", notiert die Beobachterin, ohne dies zu kommentieren. Dass sich alle Männer rasieren, bis auf drei, die einen Bart tragen, wird ebenso wohl vermerkt wie der Umstand, dass sich zwei der drei Bartträger ihre Pracht stutzen, einer indes nicht. Eine der wundervollen Illustrationen von Marc Simont gibt Auskunft über den wirren haarigen Gesamteindruck des etwas nachlässigen Musikers. Ein Geiger vielleicht?

Der subtilen Autorin entgeht nichts: kein Sockenhalter ("damit die langen Kniestrümpfe nicht auf die Knöchel rutschen"), kein Manschettenknopf und kein Hosenträger. Dass 45 Männer aufstehen, um sich die Hose anzuziehen, 47 sich allerdings dabei hinsetzen, wird zwar trocken registriert (kongenial einfach übersetzt von Saskia Heintz), verweist aber schon ins Gesellschaftspsychologische.

Auch den einen Mann, bei dem alles etwas anders ist, hat Karla Kuskin entdeckt. Dieser Herr mit dem gewellten schwarzen Haar zieht sich ein sehr weiches weißes Hemd mit Rüschen auf der Brust an. Wer mag das sein? Auch einen besonderen Gürtel namens Kummerbund legt er an. Diesen Herrn müssen wir wohl im Auge behalten. Als alle sich ihre Jacken anziehen und die Koffer in die Hand nehmen - große und kleine, dicke und dünne, unförmige und lange schmale -, da zeigt sich, dass der Herr mit dem gerüschten Hemd nichts dergleichen tut. Er trägt nur eine sehr dünne Lederaktentasche. Kein anderer hat eine solche Lederaktentasche.

Dann verlassen die 105 Damen und Herren ihre Wohnungen. Eine merkwürdige Zeit, um zur Arbeit zu gehen. Die 105 Frauen und Männer sagen Ehefrauen und -männern, Müttern und Vätern, Freunden, Kindern, Hunden, Katzen und Vögeln auf Wiedersehen, gehen aus 105 Türen auf 105 Straßen, nehmen Taxen, Autos und U-Bahnen und treffen sich schließlich alle auf der großen Bühne der Philharmonie. Alle Musiker bis auf drei haben ihre Instrumente mitgenommen. Auch die drei, die keins haben, kennt die Autorin genau: Es sind die Harfenistin und die zwei Trommler.

Schließlich wird auch das Geheimnis um den Mann mit der Lederaktentasche gelüftet. Wir haben es schon geahnt: Es ist der Dirigent. Als er den Taktstock hebt, sehen wir sie alle, die wir durch den Abend begleitet haben, die Langmähnigen und die Sauberen, die Gutbesockten und die U-Bahnfahrer. Alle zusammen verwandeln sie schwarze Noten auf weißem Papier in eine wunderschöne Sinfonie. Wer Karla Kuskins Buch angeschaut hat, ob Kind, ob Mann, ob Musiker oder Musikhörer - jedes Orchester der Welt wird er künftig mit anderen Augen sehen.

Karla Kuskin: Das Orchester zieht sich an, Hanser-Verlag, München 2002, 48 S., 11,90 EUR

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