Am 6. Juli 1865 erschien das erste Exemplar des links angesiedelten Blattes. Das Abonnement kostete per annum, wie es hieß, drei Dollar, für ein Halbjahresabo zahlte man zwei Dollar. Barack Obama hat zu diesem Jubiläum gratuliert: Zu Zeiten eines „Nachrichtenzyklus mit 140 Zeichen“ sei es ermutigend, dass eine amerikanische Institution, die eine „provozierende, vernünftige Debatte pflegt auf der Suche nach Chancengleichheit und Gleichberechtigung“, eineinhalb Jahrhunderte nach ihrer Gründung noch immer gedeihe. Der Präsident schrieb die lobenden Worte in der mehr als 250-seitigen Jubiläumsausgabe. Die Nation-Autoren sind freilich in vielen Punkten nicht mehr begeistert von Obama, wegen der Überwachung durch die NSA, wegen des Drohnenkrieges sowie des Freihandelsenthusiasmus im Weißen Haus. Gerade konnte Obama das Transpazifische Freihandelsabkommen – trotz der Unterstützung aus dem republikanischen Lager – nicht gegen eine Mehrheit der Demokraten im Kongress durchsetzen.
Wer hat nicht alles geschrieben für das Wochenblatt zu Politik, Kultur, Gesellschaft, Film und Literatur – John Steinbeck, Sylvia Plath, Hannah Arendt, Martin Luther King, Albert Einstein, Edward Said, Emma Goldman, Gore Vidal, James Baldwin, Alice Walker, Ralph Nader, Naomi Klein. The Nation ist eine Art EKG der US-Linken – im weitesten Sinne. In den 30er Jahren wurde in der Redaktion heftig debattiert über Stalin, Trotzki und Bucharin oder die Rolle der Kommunistischen Partei bei den Linken in den USA. Heute wolle das Magazin den „Dialog zwischen Radikalen, Liberalen, Fortschrittlichen und sogar Konservativen mit Gewissen fördern“, sagt Chefredakteurin Katrina vanden Heuvel jüngst im Rundfunkprogramm Democracy Now. Die überragende Frage laute, welche Reformen sind möglich in einem Land mit dieser Konzentration von Macht und Reichtum?
Gegenwärtig liegt die Abonnentenzahl für die Print- und Digital-Ausgabe bei 120.000; thenation.com hat pro Monat zwei Millionen „unique visitors“, teilt die Redaktion mit. Im Magazin liest man heute, die Tage der globalen Supermacht seien gezählt, die Eliten wollten das allerdings nicht eingestehen. Und einen eher bitteren Text gibt es auch: Wie Obama vom Kandidaten für Frieden zum Kriegspräsidenten wurde. Ein Beitrag in der Jubiläumsausgabe befasst sich mit Senator Bernie Sanders, dem in den demokratischen Vorwahlen kandidierenden sozialistischen Präsidentschaftsanwärter. Man dürfe den Mann nicht unterschätzen. Die USA seien doch „durch eine Revolte gegen die Konzentration der Macht und des Vermögens“ gegründet worden.
In anderen Artikeln geht es um Hillary Clintons Probleme mit der Ethik oder um Polizeibrutalität, die in Fort Leavenworth inhaftierte Wikileaks-Aktivistin Chelsea Manning. Oder um ein staatlich finanziertes Empfängnisverhütungsprogramm in Colorado, dem die Republikaner Gelder streichen wollten, obwohl es ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen reduziert hat. Eine Sonderausgabe schürfte beim Thema Innovation und Technologie und verbreitete die Botschaft: Das Internet öffne neue politische Wege, doch nur gemeinschaftliches Handeln sorge für einen Wandel in diesen Zeiten, da „eine kleine Gruppe von Hightech-Unternehmen“ zu den größten Konzernen der Welt gehöre, darunter Google, Facebook und Apple.
Widersprüche existieren. Beim Herunterladen der Nation-App auf das Smartphone wurde kürzlich auf dem kleinen Bildschirm angeboten, sich beim Fahrdienstanbieter Uber zu bewerben. Als unabhängiger Unternehmer habe dort der Chauffeur „Freiheit und Flexibilität“, verspricht Uber. Kein Büro, kein Boss.
Als die erste Ausgabe von The Nation vor 150 Jahren aus der Druckerei kam, hatte der damals gut 30 Millionen Einwohner zählende Staat USA gerade eine existenzielle Krise bewältigt. Am 14. April 1865 war Präsident Abraham Lincoln erschossen worden. Der Attentäter war ein Sympathisant der Südstaaten und laut Medien ein „verzweifelter Rebell“, der sich rächen wollte an den Siegern des 1861 begonnenen Bürgerkrieges. In diesem Konflikt zwischen Nord und Süd ging es um die für die Plantagenwirtschaft des Südens enorm profitable Sklaverei. Geschätzte 750.000 Soldaten kamen ums Leben, doch die Sklaverei ging unwiderruflich zu Ende. Der Todesschütze John Wilkes Booth schrieb in sein Tagebuch, Gott habe ihn „zum Instrument der Strafe gemacht“. Booth wurde auf der Flucht erschossen, seine Mittäter starben am Galgen.
Das Konzept für die Zeitschrift war im Juni 1863, also noch während des Bürgerkrieges, im Union League Club von New York einigen wohlhabenden Männern vorgestellt worden. Ein Initiator war der Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted, Designer des Central Park in Manhattan, noch heute die grüne Oase der Millionenstadt. Als Männer der Elite sorgten sich die Mitglieder des Union League Club (Frauen dürfen erst seit den 1980er Jahren mitmachen) um die Einheit der Nation, lehnten die Sklaverei ab und waren bereit, auch finanziell einzuspringen. The Nation war gedacht als „wahrhaftige Wochenzeitung“, nicht für die Massen, sondern eine ausgewählte, einflussreiche Leserschaft. Gewerkschaften gegenüber war man eher negativ eingestellt. Den Union League Club gibt es noch heute an der Kreuzung East 37. Straße/Park Avenue. Gentlemen müssen laut Kleidungsvorschrift Jacketts tragen.
Schimpfen Tea-Party-Anhänger heute über die liberale New-York-Elite, sind Leute gemeint wie die Mitarbeiter der Nation. Für die Redaktion sind soziale Reformen nur mit den Demokraten denkbar. Chefredakteurin vanden Heuvel pflegt seit langem Beziehungen zu den Kennedys. Die linksliberale Haltung des Blattes gründet nicht zuletzt auf dem kritischen Ja in den 30er Jahren zu Präsident Franklin Roosevelt und seinen New-Deal-Wirtschaftsreformen. Schon früh warnte The Nation vor dem Faschismus, während heutige Autoren gegen eine permanente NATO-Osterweiterung und die Isolierung Russlands polemisieren. The Nation solidarisierte sich mit der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre oder mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg etwas später. Die Zeitung wandte sich konsequent gegen militärische Mittel, auch in den Monaten nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Man blieb skeptisch gegenüber der Ausweitung des Sicherheitsstaates.
Es lässt sich kaum ermessen, was dieses kleine Periodikum erreicht hat. Der US-Historiker Michael Kazin schrieb vor mehreren Jahren das Buch Amerikanische Träumer. Wie die Linke eine Nation verändert hat. Der Titel war eine Botschaft: Die progressive Bewegung habe trotz vieler Rückschläge die moralische Grundeinstellung in den USA verändert. Bei vielen sozialen Fragen werden Amerikaner zusehends tolerant; jüngstes Beispiel ist die schnell wachsende Zustimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Andererseits finden strukturelle Veränderungen gerade in der Wirtschaft so gut wie nicht statt.
Zu ihrem 150. Geburtstag verspricht The Nation eine umfassend neu gestaltete Webseite. Man glaube an die Bedeutung des gedruckten Produkts, doch sei das Digitale eine Frage des Überlebens. Junge Menschen beziehen ihre Nachrichten inzwischen vom Smartphone. Soziale Bewegungen wie Black Lives Matter, die in The Nation besprochen und gelobt werden, mobilisieren mit Hilfe des kleinen Bildschirms.
60 Prozent der Einnahmen des Magazins kommen laut Redaktion von digitalen und Print-Abonnements, 15 bis 25 Prozent dieser Abnehmer spenden im Schnitt 60 Dollar pro Jahr. 13 Prozent des Etats verdient man durch Werbung, dazu kommen Leser-Kreuzfahrten und Reisen nach Kuba sowie die Einnahmen des Nation-Weinclubs, der Produkte aus ökologischem und gewerkschaftsfreundlichem Anbau vertreibt. Trotz periodischer Engpässe hat das Geschäftsmodell bisher funktioniert. Mehr oder weniger. Ansonsten kommen die Spendenaufrufe.
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