Blut, Schweiß und Tränen für alle

Mehr als nur ein Gerücht In den USA wird über eine selektive Rückkehr zur Wehrpflicht nachgedacht

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn im Irak ist trotz der vollzogenen Wahlen kein Ende der rund 140.000 Männer und Frauen starken US-Besatzung in Sicht. So wird in amerikanischen High Schools und Colleges viel spekuliert: Könnte die Wehrpflicht wieder eingeführt werden, wenn die Berufsarmee nicht mehr ausreicht? Wenn woanders ein Brand ausbricht und - so gegenwärtige Pläne des Verteidigungsministeriums - in zwei Jahren noch immer mindestens 120.000 US-Uniformierte im Irak stehen? Der Präsident und seine Leute schrecken vor der Wehrpflichtdebatte zurück wie der sprichwörtliche Teufel vor dem Weihwasser. "Wir werden die Wehrpflicht nicht wieder einführen. Ende der Diskussion", versichert Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.

Seit 1973 dienen in den USA nur Profis in Uniform, unter anderem aus Patriotismus, Abenteuerlust, wirtschaftlichem Zwang, Suche nach Lebensperspektive. Präsident Nixon ordnete seinerzeit den Übergang zu Freiwilligenstreitkräften an. Nicht, weil die Wehrpflichtigen versagt hatten, sondern wegen der politischen Kosten. Die Anti-Vietnamkriegsbewegung verdankte viel von ihrer Dringlichkeit jenen jungen Männern, die alle - wenn auch in Abhängigkeit von Einkommen und Bildung nicht alle gleich stark - plötzlich der Gefahr ins Auge blicken mussten, sie könnten in den Dschungel Südvietnams geschickt werden.

Heutige Umfragen zeigen, dass die meisten Amerikaner die Wiedereinführung der Wehrpflicht ablehnen. Die Mehrheit hat auch Zweifel an der Recht- und Zweckmäßigkeit des Irak-Krieges, nur ist die Friedensbewegung nicht mehrheitsfähig. Und ohne das Damoklesschwert der Wehrpflicht haben offenkundig auch viele kritische US-Bürger kein Eigeninteresse am Truppenabzug aus dem Irak.

Das Project for the New American Century, ein intellektuelles Zentrum der "neuen" Außenpolitik, hat Ende Januar 2005 vorgerechnet: Die USA brauchten einfach mehr Soldaten, um ihre "Aufgaben und Pflichten" zu erfüllen. Für einen Krieg gegen Nordkorea etwa müsste das Pentagon nach eigener Schätzung 700.000 Mann aufmarschieren lassen. Es wird eng - US-Militärs sind derzeit in mehr als 100 Nationen im Einsatz.

Im Jahr 2004 hätten "neun der zehn aktiven Divisionen" des US-Heeres im Irak oder in Afghanistan gedient, seien gerade von diesen Kriegsschauplätzen zurückgekommen oder bereiteten sich auf einen dortigen Einsatz vor, warnt Lawrence Korb, zuständig für "Manpower" (militärisches Personal) unter Ronald Reagan. General Richard Myers, der Vorsitzende der Vereinten Stabschefs, räumte im Februar ein, das Rekrutieren sei inzwischen eine "Herausforderung". Nach Presseberichten haben besonders die Landstreitkräfte Probleme, obwohl die Quote ihrer Rekrutierer um 800 auf 6.000 erhöht wurde. Die Zahl der neu Geworbenen liegt 2005 deutlich unter dem Soll.

Mitte März bekannt gewordene Studien des Verteidigungsministeriums beklagen, dass sich vor allem immer weniger Afro-Amerikaner melden. Schwarze GIs stellen 23 Prozent der Soldaten des Heeres. 2004 hätten neue schwarze Rekruten aber nur einen Anteil von 16 Prozent aller Rekrutierungen ausgemacht. Auch junge Frauen zeigen ein immer geringeres Interesse am Leben in Uniform. Und 50 Prozent der Jugendlichen erklären, die Armee sei ihre letzte Karrierewahl. Eine Sequenz aus Michael Moores Fahrenheit 9/11 kommt einem da unwillkürlich zu Bewusstsein: Moore vor dem US-Capitol in Washington auf der Suche nach Abgeordneten und Senatoren mit Söhnen oder Töchtern in Uniform, speziell: im Irak. Moore geht fast leer aus.

Probleme hat das Verteidigungsministerium auch, Zeitsoldaten für Vertragsverlängerungen zu gewinnen (obwohl manchmal 100.000 Dollar angeboten werden) oder Personal für die Nationalgarde zu werben. Traditionell war das ein Wochenendjob; inzwischen dienen Zehntausende Nationalgardisten ein Jahr und länger im Irak.

Das Verteidigungsministerium findet bisher Behelfslösungen. Die schulischen Kriterien für eine Aufnahme in die Armee werden zurückgeschraubt, die Stationierungszeiten im Irak um ein paar Wochen verlängert. Oder Angehörige der Nationalgarde und aktivierte Reservisten müssen gegen ihren Willen etwas länger bleiben und werden öfter zum aktiven Dienst eingezogen: Kurzfristig hilft das, langfristig schadet es dem Rekrutieren. Das Magazin Rolling Stone hat kürzlich recherchiert: Trotz gegenteiliger Versicherungen des Pentagon - es laufen Vorbereitungen, um zum Prinzip Wehrpflicht zurückkehren. Der Selective Service, die Behörde, die augenblicklich für die laufende Registrierung aller jungen Männer zuständig ist, berate mit ranghohen Pentagon-Vertretern wegen der Personalknappheit: Zu rechnen sei im "Ernstfall" aber nicht mit einer umfassenden Wehrpflicht, sondern einer selektiven. Der Selective Service habe nach eigenen Angaben einen Plan entworfen, um Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger einzuziehen, mit denen vakante Posten in der Army besetzt werden könnten - auch an Dolmetscher und Ingenieure sei gedacht.

Ganz gleich, was passiert - entscheidend werden die ohnehin nicht vorhersehbaren äußeren Umstände sein. In Sachen Wehrpflicht kollidiert die Realität mit der Illusion, die USA könnten ohne wirkliche Kosten Krieg führen. Zum einen, ohne Steuern zu erhöhen, und zum anderen, ohne weitgehende persönliche Opfer zu verlangen. Wenn es zu dieser Kollision kommt, wird sich zeigen, wie viele Amerikaner wirklich bereit sind, Blut, Schweiß und Tränen zu vergießen.


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