Irgendwo tickt eine Uhr

Schulzeit in den USA Der Lehrer holte seinen Colt 45 aus der Tasche und der Schüler gab auf

Früher was das viel einfacher. Nach den Schulschießereien in Littleton (Colorado), Jonesboro (Arkansas), Pearl (Mississippi), Springfield (Oregon) und einem Dutzend weiterer Orte in den USA redete man gescheit daher in deutschen Wohnzimmern und Kneipen: Diese Amis mit ihrer Schusswaffenvernarrtheit. Mehr als 200 Millionen Revolver, Pistolen und Gewehre seien dort im Umlauf. Kein Wunder, dass in Amerika schon Teenager losballern.
Und jetzt Erfurt. Da versagen die Erklärungsmuster. Freilich haben die deutschen Schlaumeier die Weisheit nicht gepachtet. In den USA stärkt das Blutbad die Opposition der engagierten Schusswaffenliebhaber, denen jede Kontrolle zuwider ist. Deutschland sei ein Land mit ganz strengen Waffengesetzen. Und trotzdem das Massaker. Ergo - Gesetze helfen nicht. Kommentiert Larry Pratt, Chef der Gun Owners of America: Ein Lehrer mit Revolver hätte dem Spuk ein Ende bereitet. Seinerzeit in Littleton. Der Held der Gun Owners heißt Joel Myrick, stellvertretender Schuldirektor in Pearl, als dort der 16-jährige Luke Woodham im Oktober 1997 zwei Mitschüler erschoss. Myrick holte seinen Colt 45 aus der Tasche und hielt Woodham die Knarre an den Kopf. Der Schüler gab auf.
Die Schulschießereien (39 Tote seit 1996) haben in den USA auch die Schusswaffengegner auf den Plan gerufen. Höhepunkt war im Frühjahr 2000 der Million Mom March in Washington für "vernünftige" Schusswaffengesetze. Etwa 700.0000 kamen. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit in den USA Schusswaffengesetze befürwortet. Aber wahlmotivierend ist das nicht. Nach der Kundgebung war nicht mehr viel los. Politiker wollen und müssen sich nicht zu weit vorwagen. Al Gore bekam eins auf die Finger, als er zu Beginn des Wahlkampfes gegen Bush über Waffenkontrollgesetze sprach.
Die Symbolik des Themas ist nicht zu vermeiden: Das Recht auf Schusswaffenbesitz gilt vielen Amerikanern als Garantie, sich verteidigen zu können und freie Bürger zu sein. Hier tun sich tiefe kulturelle und soziale Abgründe auf zwischen den Gegnern und den schätzungsweise 60 bis 80 Millionen Schusswaffenbesitzern in den USA. Die Waffennarren ("gun nuts") kommen eher aus der Arbeiterschaft, kommen vom Land, haben weniger Dollars als die Mitbürger, die sich in "guten" Vororten oder gar von Privatpolizei bewachten Siedlungen niederlassen. Rosie O´Donnell, Fernsehtalkerin und Moderatorin des Million Mom March, das kam später heraus, lässt ihre Kinder von einem bewaffneten Sicherheitsmann schützen.
Und dann garantiert die US-Verfassung (Zusatz 2) das Recht auf Waffenbesitz: "The right of the people to keep and bear arms shall not be infringed". Das Recht der Bewohner (gemeint sind Bürger und Nicht-Bürger, also eigentlich auch die heutzutage automatisch des Terrorismus verdächtigten Studenten aus arabischen Ländern), Waffen zu besitzen und zu tragen, darf nicht beeinträchtigt werden. Das ist mindestens so klar und unmissverständlich wie Zusatz 1, der die Rede-, Presse und Religionsfreiheit garantiert, und den Liberalen, Intellektuellen und Linken heilig ist, die sich gern über die "Waffennarren" aufregen.
Die Zahl der Schusswaffen-Mordopfer ist in den vergangenen Jahren dramatisch zurück gegangen. Laut FBI wurden 1993 in den USA 17.075 Menschen mit Schusswaffen ermordet, im Jahr 2000 nur mehr 8.493. (12.943 wurden erdrosselt, erschlagen, erstochen oder sonst wie umgebracht.) Die "Brady Kampagne gegen Schusswaffengewalttaten" (benannt nach dem beim Reagan-Attentat seinerzeit schwer verwundeten Pressesprecher James Brady) lobt sich selber. Der Rückgang sei vor allem wegen des 1994 eingeführten Brady-Gesetzes eingetreten, das Schusswaffenhändler zwingt, vor einer Transaktion bei einer Datenbank des US-Justizministeriums zu prüfen, ob der Kunde eine Waffe kaufen darf. Vorbestrafte dürfen nicht. Das Brady-Gesetz habe 600.000 Verkäufe gestoppt.
Die "Law-and-order"-Fraktion des amerikanischen Bürgertums erklärt die Mordstatistik anders. Man sperre jetzt die Kriminellen weg: Zwei Millionen Amerikaner sind im Knast, etwa 600.000 mehr als vor zehn Jahren. Zugrunde liegt der Mordstatistik freilich der generelle Rückgang der Kriminalität in den vergangenen Jahren. Da kann man sich auch bei Bill Clinton bedanken. Bei einem Wirtschaftsaufschwung lässt die Kriminalität nach. Unter Bushs Vorgänger gingen die Armuts- und die Arbeitslosenrate tatsächlich deutlich zurück.
Aber die Schulschießereien? Ausdruck gesellschaftlicher Verrohung? Weil sich die Menschen zu wenig um einander kümmern? Viel hat man ausprobiert in den USA: Metalldetektoren, Konfliktlösungskurse, Beratung für Eltern, Lehrerfortbildung zum Thema psychische Störungen. Was hilft? Das kann keiner mit Sicherheit sagen. Im Grunde sind US-Amerikaner da so ratlos wie der deutsche Kanzler, der sich nun anscheinend Sorgen macht über Gewalt auf dem Bildschirm und virtuelle Gewalt durch Computerspiele. Vermutlich zu Recht. Gleichzeitig schickt Schröder junge Menschen in den Krieg. Irgendwie muss es doch auch einen Zusammenhang geben zwischen Kriegsbereitschaft einer Nation und Gewaltbereitschaft junger Leute. Runder Tisch gefällig?

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