Was man schon lange vermutete, haben wir jetzt auch im Originalton: Schon gleich zu Beginn des ruandischen Völkermordes von April bis Juni 1994 war hochrangigen Regierungsvertretern in Washington vollkommen klar, was sich abspielte. Obwohl Clinton Co. hinterher Schutzbehauptungen wie »nicht absehbar« aufstellten. »Never again« steht anscheinend nur im Holocaust-Museum. Die US-Regierung schaute zu in Ruanda, als fanatische Hutus Angehörige der Tutsi-Minderheit und oppositionelle Hutus mit Macheten niedermetzelten, erschossen und bei lebendigem Leib verbrannten. 800.000 oder mehr Menschen kamen um.
Den O-Ton geben bisher geheime US-Regierungsdokumente wieder, die im August vom unabhängigen Washingtoner »National Security Archive« im Internet (www.nsarchive.org) platziert wurden. Da warnte Prudence Bushnell, die zweithöchste Frau in der Afrika-Abteilung des Außenministeriums, ihren Chef Warren Christopher, noch am ersten Tag der Massaker vor »weitverbreiteter Gewalt«. »Hunderttausende« seien bedroht, befand der militärische Geheimdienst »Defense Intelligence Agency(DIA)« ein paar Tage darauf. Und dann ein weiterer DIA-Geheimbericht: Die Massaker gegen die Tutsis seien nicht spontan, sondern wurden von hochrangigen Hutu-Regierungsvertretern angeordnet; die Armee verfolge die »völkermörderische« Strategie, alle führenden Tutsis »zu zerstören«. Doch die Regierung Clinton sprach sich für den Abzug der UN-Einheiten aus Ruanda aus.
Das schrecklichste an der ausbleibenden internationalen Intervention gegen »das schnellste und effektivste Morden im 20. Jahrhundert« sei gewesen, dass das außenpolitische »System« in Washington eigentlich »funktioniert« habe. So schreibt Samantha Power vom »Care Center for Human Rights Policy« an der renomierten Harvard Universität in einem - und wen überrascht das - relativ wenig beachteten Aufsatz über den Genozid in der Septemberausgabe des in New York erscheinenden Magazins Atlantic Monthly. Power hat die National Security Archive-Dokumente ausgewertet und Interviews mit Dutzenden amerikanischen Regierungsvertretern geführt. Clinton und hochrangige Offizielle hätten einen militärischen Einsatz gegen die Massaker nie in Erwägung gezogen, fasst Power zusammen. Die Entscheidung war gefallen.
Ungehört verhallten die Warnungen der unteren Ränge und Presseberichte wie der in der Washington Post von »wohlsortierten« Bergen abgehackter Köpfe und Glieder. Präsident Bill Clinton habe »so gut wie gar kein Verlangen gezeigt, den Genozid zu stoppen«, bedauert Power. In den blutgetränkten drei Monaten ließ Clinton keine einzige hochrangige Sitzung zu Ruanda einberufen. Für die US-Politiker und Diplomaten war Ruanda in den Worten des damals mit Bosnien und Haiti beschäftigten Sicherheitsberaters Anthony Lake »nicht einmal ein Nebenschauplatz, sondern überhaupt nicht auf der Landkarte«. »Vielleicht hätte ich nackt durchs Ministerium rennen sollen«, um auf die Katastrophe aufmerksam zu machen, sagte Bushnell zu Power. »Aber vielleicht hätte auch das niemand bemerkt. Ich hätte es aber tun sollen«.
Ein Einsatz in Ruanda passte aus Clintons Sicht weder ins tagespolitische Geschehen noch in seine strategische Planung. Ruanda bedrohte keine amerikanischen Interessen. Nach zwei Jahren im Amt und mit einem gestörten Verhältnis zu den Männern in Uniform habe der Präsident beweisen wollen, wie umsichtig er mit den vor allem bei den Republikanern umstrittenen humanitären Einsätzen umgehen könne. Das Nichtstun im schwarzafrikanischen Ruanda hatte Methode; es sollte anscheinend die Atmosphäre für zukünftige und »wichtigere« UN-Einsätze nicht vergiften. Bushnell durfte Mitte April im Presseraum des Außenministeriums vor der Katastrophe warnen. Nach ihr trat Pressesprecher Mike McCurry ans Mikrophon und kritisierte Regierungen, die Schindler´s Liste zensierten, führe der Film doch vor, dass bei einem Völkermord »ein einziger Mensch einen Unterscheid machen kann«.
Auch die amerikanischen Militärs hatten keine Ambitionen, sich in Ruanda zu engagieren. Frank Wisner, der dritthöchste Mann im Pentagon, lehnte selbst einen Vorschlag ab, den Hetzrundfunksender in Ruanda zu stören, der pausenlos Anweisungen zur Ausrottung gab. Ein solches Projekt sei nach internationalem Recht fraglich, seine Auswirkungen ungewiss, und außerdem teuer, warnte Wisner in einer jetzt bekannt gewordenen Memo. Es ging um 8.500 Dollar die Stunde. US-Außenminister Warren Christopher weigerte sich lange, das Blutbad als »Völkermord« zu bezeichnen, da eine solche Definition die USA zwingen könnten, »etwas zu tun«.
Eine wohlausgerüstete Militäreinheit hätte nach Powers Darstellung den Völkermord weitgehend stoppen können. Mit begrenzten europäischen Einsätzen seien ja auch die weißen Ausländer rausgeholt worden. Powers Analyse zielt auf das Verhalten der US-Regierung. Am Ende saß auch Europa weitgehend auf den Zuschauerbänken.
Versagt haben freilich auch die Institutionen der amerikanischen Zivilgesellschaft. Der Kongress, die Medien, Lobbygruppen, das Fernsehen mit seinen so wichtigen Bildern: Kaum jemand machte Druck auf Clinton. Dass dessen Nachfolger im Weißen Haus anders reagieren könnte, glaubt Power nicht. Schließlich habe Bush erst im vergangenen Jahr gesagt: »Ich mag Völkermorde nicht... Aber ich würde unsere Streitkräfte nicht hinschicken«.
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