Notfalls ist Obama schuld

Schweinegrippe Der US-Präsident hat den "nationalen Notfall" ausgerufen, um die weitere Verbreitung des Schweinegrippe-Virus zu bremsen. Sofort kursieren absurde Verschwörungstheorien

Die Nation ist verwirrt. Nachvollziehbare Skepsis, ob die Schweinegrippe denn nun wirklich so viel schlimmer sei als die "normale", vermischt sich mit bizarren Thesen. Obama wolle mit der "orchestrierten Grippe-Panik" polizeistaatliche Maßnahmen durchsetzen oder mit dem angeblich supergefährlichen Impfstoff aus Ökogründen die Weltbevölkerung reduzieren. Wenn die H1N1-Impfung angeboten wird – erste Großimpfungen gab es
bereits – stehen mancherorts hunderte Menschen Schlange. In einem Vorort von Washington musste die Polizei im Gedränge für Ordnung sorgen. In Fairfax im Bundesstaat Virginia pilgerten Dutzende mit Zelt und Schlafsack zu den Impforten, um am Morgen danach als erste dran zu sein. Anderswo kommt kaum jemand, wie im Washingtoner Quartier Anacostia, dem ärmsten Viertel der Hauptstadt. Im Bundesstaat New York prozessierten Gewerkschaften erfolgreich gegen eine Impfvorschrift für die in Krankenhäusern Beschäftigten.

Impfen, um zu töten

Und es wird in die Ellenbogen gehustet. Kirchen empfehlen ihren Gemeinden, beim Friedensgruß auf das Händeschütteln zu verzichten, auf den Kuss sowieso. Ein Drittel der Spieler der NBA-Basketballmannschaft von Cleveland ist krank. Viele Schulen mit grippeinfizierten Kindern sagen Sportveranstaltungen ab, um die Gästemannschaften zu schützen. In einer katholischen Schule in Washington bleibt ein Fünftel der Zöglinge zu Hause. Die Grippe grassiert in den USA, jetzt schon, vor den traditionellen Wintergrippemonaten. Nach Regierungsangaben war die Schweinegrippe Ende Oktober "weit verbreitet" in 46 der 50 Bundesstaaten.

Etwa 1.000 US-Amerikaner seien bisher an H1N1 gestorben, berichtet die US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC), ein Zehntel davon Kinder und Jugendliche. So viele junge Menschen würden normalerweise
nicht einmal in der gesamten Grippesaison sterben. In zahlreichen Staaten klagen Gesundheitsämter und Hospitäler, sie hätten zu wenig Impfstoff. Das CDC räumt inzwischen ein, die mit der Impfstoff-Herstellung beauftragten Konzerne produzierten nicht so schnell wir erhofft. Bisher stehen nur 16 Millionen Impfdosen bereit – gegen die "normale" Grippe dagegen 85 Millionen.

Rush Limbaugh gilt als der meist gehörte Rundfunktalker der Vereinigten Staaten. Angeblich rund 14 Millionen Hörer kriegen bei Rush ihre Dosis Entrüstung über die "liberale" Elite, besonders Barack Obama, den sozialistischen Faschisten beziehungsweise faschistischen Sozialisten. Er werde sich nicht impfen lassen, versicherte Limbaugh kürzlich. Schon allein weil Gesundheitsministerin Kathleen Sibelius zum Impfen aufgerufen habe. Außerdem – so Rush – liege es "im Bereich des real Vorstellbaren", dass das H1N1 Impfstoff entwickelt wurden sei, "um Menschen zu töten". Die Logik hier wäre, dass die Regierung Obama gegen die Überbevölkerung des Planten vorgehen wolle, würden im Zuge der Gesundheitsreform doch auch staatliche Todeskomitees eingerichtet.

Vor dem Hurrican

Limbaugh ist kein Einzelfall. Auf konservativen Websites und in Rupert Murdochs Fernsehnetwork FOX, aber auch in Warnschriften "alternativer" Gesundheitsverbände geistern Warnungen vor der staatlichen Auffoderung zum Impfen, denn der Stoff sei nicht erprobt. Und eine gefährliche Epidemie sei bisher nicht eingetreten. Man erinnert an 1976: Damals hatte die US-Regierung mit – im Nachhinein komischen – Panik-Werbespots eine Impfkampagne gegen Schweinegrippe angekurbelt. 48 Millionen Menschen, fast ein Viertel der Bevölkerung, wurden damals geimpft, bis das Programm nach ein paar Monaten eingestellt wurde: Die "Epidemie" versiegte bald nach ihrem Auftreten im Stützpunkt Fort Dix der US-Armee. Rund 500 Geimpfte erkrankten jedoch am Guillain-Barré-Syndrom, einer schweren und manchmal tödlichen Lähmung. Die Ärztin Harriet Hall, Autorin und Bloggerin bei www.skepdoc.info steht auf Kriegsfuß mit alternativen Medizinern, die "1976" als Königsbeweis anführen. Seinerzeit habe die Regierung überreagiert, sagt Hall. Das wusste man freilich erst hinterher. Und schon jetzt sei klar, dass H1N1 nicht so glimpflich verlaufen werde wie die Influenza von 1976.

Anti-Impftheorien, auch gegen die Kinderschutzimpfungen, sind weit verbreitet in den USA, in konservativen Kreisen und in ökologisch erdnahen. Man misstraut der Regierung und der Pharmaindustrie (aber
anscheinend nicht den Naturheilern und ihren teuren Vitaminen), und es macht sich eine latente Wissenschaftsfeindlichkeit bemerkbar. "Glauben" doch einer Erhebung des Umfrageinstituts Gallup zufolge nur 39 Prozent der
US-Amerikaner an die Evolutionstheorie.

Wie schlimm H1N1 wird, das wisse natürlich niemand, sagte Harriet Hall. In den USA würde es jedoch keine ausgereifte Grippen-Katastrophe brauchen, um das marode Gesundheitssystem zu überlasten – zum Beispiel die
Intensivstationen. Kürzlich mussten zwei Krankenhäuser in Tennessee und in Texas Zelte auf Parkplätzen aufstellen: Bei der Notaufnahme war nicht genug Platz. Es habe sich in Teilen der Bevölkerung eine seltsame Gleichgültigkeit entwickelt, sagte kürzlich ein Notarzt in Atlanta, der Schweinegrippen-Opfer behandelt hatte. Er denke dabei an Fotos von Menschen, die 2008 im texanischen Galveston "auf der Sturmschutzmauer standen", bevor der Hurrikan die Stadt verwüstet habe.



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