Es ist eine unruhige Zeit in den USA für Recht, Verfassung und Demokratie, auch wenn die Regierung Obama die wildeste republikanische Forderung abgeschmettert hat, man solle den mutmaßlichen Bombenleger vom Boston-Marathon, einen US-Bürger, zum „feindlichen Kämpfer“ abstempeln und ohne Rechtsbeistand vor einem Militärtribunal aburteilen.
Die Tat ist durch nichts zu rechtfertigen, der gesellschaftliche Kontext und die selektive Wahrnehmung des Terrorismus geben allerdings Anlass zur Sorge. Mit Terrorismus meint man in den Vereinigten Staaten im wesentlichen islamistisch motivierte Gewalttaten, möglichst mit Verbindungen zum Ausland. „Terroristen“, das sind die anderen, denen man die Menschlichkeit abspricht, was radikale Gegenmaßnahmen erlaubt.
Bush hat serviert
Am 1. Mai öffnet im texanischen Dallas die offizielle George-Walker-Bush-Bücherei ihre Tore. Die Einrichtung vertrete die Werte Freiheit, Verantwortlichkeit, Chancen und Mitgefühl, heißt es. Er sehe absolut keinen Grund, sich zu verteidigen, sagte der Ex-Präsident Anfang April der Zeitung USA Today. „Ich tat, was ich getan habe, und letztendlich wird die Geschichte das Urteil sprechen.“ Barack Obama will angeblich zur Eröffnung kommen, Bill Clinton auch. Es werden Erinnerungstücke der besonderen Art ausgestellt, unter anderem eine Jacke, die Bush 2003 zum Thanksgiving in Bagdad getragen haben soll, als er US-Soldaten das traditionelle Truthahn-Dinner servierte. Im Irak wurde angeblich der Terrorismus bekämpft. Hunderttausende Iraker sind tot, auch Tausende Amerikaner, die seinerzeit mit den Interventionstruppen ins Land kamen.
In Boston liegt nun Dschochar Zarnajew auf der Intensivstation des Beth Israel Deaconess Medical Center. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben. Zusammen mit seinem Bruder Tamerlan habe der 19-Jährige eine „Massenvernichtungswaffe gegen Personen und Eigentum“ eingesetzt, steht in der Anklageschrift. Drei Menschen kamen bei dem Anschlag ums Leben, der achtjährige Martin Richard, die 29-jährige Restaurant-Managerin Krystle Campbell und die Boston-University-Studentin Lu Lingzi, 23 Jahre alt. Wenig später erschossen die Brüder offenbar den in seinem Auto sitzenden Polizisten Sean Collier (26). Über die Tatmotive wird heftig spekuliert. Experten befassen sich mit den Brüdern, man weiß noch nicht viel, außer dass ihre Familie aus Tschetschenien stammen soll. Oder Dagestan. Oder auch Kirgistan. Und dass diese Familie muslimisch ist.
Das Constitution Project, eine überparteiliche Kommission, die sich mit dem Einhalten der US-Verfassung befasst, hat Mitte April einen mehr als 500 Seiten langen Bericht (detaineetaskforce.org) vorgestellt über die Behandlung von „Detainees“ im Krieg gegen den Terror. Eine Schlussfolgerung des Reports lautet: „Es steht zweifelsfrei fest, dass die Vereinigten Staaten Folter praktiziert haben.“ Das sei ein „schwerer Fehler gewesen“. Politiker beider Parteien müssten das eingestehen. Menschenrechtler und natürlich die Gefangenen selbst geben schon länger zu Protokoll, von US-Sicherheitskräften bei Verhören gefoltert worden zu sein. Doch das Wort „Folter“ bleibt weitgehend tabu in den US-Medien.
Die Kommissions-Mitglieder sind aus Sicht der Washingtoner Elite über jeden Zweifel erhaben. Es handelt sich unter anderem um Ex-FBI-Direktor William Sessions, den früheren Chef der Anti-Drogenbehörde Asa Hutchinson (ein guter Freund der Schusswaffenlobbyisten von der National Rifle Association/NRA), um einen ehemaligen Präsidenten der Verbandes der Rechtsanwälte sowie Armeegeneral a.D. Claudia Kennedy. Ihr Bericht ging unter im Twitter-Sturm von Boston.
Papst Franziskus hat vergangene Woche dem 3.000 Einwohner zählenden Ort West im Staat Texas sein Beileid ausgesprochen. 14 Menschen, die meisten Rettungskräfte, kamen dort bei der Explosion der West Fertilizer Company-Düngemittelfabrik ums Leben, zwei Tage nach dem Anschlag von Boston. Politiker behandelten die Katastrophe als bedauerlichen Unfall, nicht vergleichbar mit dem Terrorakt. Einerseits, andererseits, wie Associated Press (AP) schreibt, habe die Behörde OSHA, zuständig für die Kontrolle von Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz, die Fabrik 1985 besucht. Die Inspektoren bemängelten damals „schwerwiegende Verstöße“ bei der Lagerung von wasserfreiem Ammoniak. Die Betreiber wurden zu einer Strafe von 30 Dollar verurteilt. Wie die gewerkschaftsnahe Wochenzeitung In These Times rechnete, kommt in den USA ein Inspektor auf 58.000 Arbeiter. Unfälle mit Todesfolge am Arbeitsplatz sind programmiert.
Auf dem Schlachtfeld
Doch dies ist kein Thema, das die Politik erregt. Oder eben die Bevölkerung. Vom Staat verlangt man als Bürger, er möge für Sicherheit sorgen gegen den Terror. Wobei eigentlich allen klar ist, dass es keine totale Sicherheit geben kann – und der „Terrorismus“ ziemlich weit unten auf der Liste potentieller Gefährdungen steht. Aber wer will das wahrhaben? Beim vermeintlichen Kampf gegen den Terror geben die Bürger Rechte preis. Und der Staat wird zum Monster, das foltert, Guantánamo einrichtet und unbegrenzte Haftstrafen ohne Gerichtsverfahren verhängt.
In Boston erlebten die USA eine außerordentliche polizeiliche Machtdarbietung. Gepanzerte Fahrzeuge, Hubschrauber, Scharfschützen. 9.000 Polizisten und Hunderte von Nationalgardisten waren im Einsatz. Ein so genannter Lockdown der Stadt plus ihrer Umgebung. Das war eine Art Ausnahmezustand, auch in den Köpfen. „Mehr Sicherheit“, das ist ein Argument, mit dem die Sicherheitskräfte immer gewinnen: Denn wer kann definitiv sagen, dass mehr Überwachungskameras und mehr Polizei nicht helfen würden gegen die Terrorgefahr? Und wer wird den Mut haben und fordern, die US-Gesellschaft brauche weniger von dieser polizeistaatlichen Sicherheit? Schon jetzt hetzen Konservative ausgerechnet gegen das FBI: Die Behörde habe vor zwei Jahren Tamarlan Zarnajew im Visier gehabt, aber offenbar nichts Belastendes gefunden und die Ermittlungen ruhen lassen.
Spätestens seit Boston kann man sich vorstellen, wie der Ausnahmezustand in den USA aussieht. Über „social media“ konnten sich die Bürger daran beteiligen, so wie es die virtuellen Aktivisten in Boston auch taten. „Das Heimatland ist das Schlachtfeld“, kommentierte der republikanische Senator Lindsey Graham in der Washington Post.
Konrad Ege hat sich bereits in der vorangegangenen Ausgabe mit den Ereignissen in Boston beschäftigt
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