Angeblich hat es keine 48 Stunden gedauert, bis nach dem Sturz der Twin Towers einige fragwürdige Händler in Manhattan T-Shirts mit dem Aufdruck „Ich kann nicht glauben, dass ich es raus geschafft habe“ („I can‘t believe I got out“) verkauft haben. 15 Jahre später schafft es ein texanischer Matratzenhändler, diese Geschmacklosigkeit zu überbieten. Das Unternehmen entwarf ein 9/11-Sonderangebot mit einem Clip, in dem zwei Mitarbeiter in Türme aus Matrazen fallen. Während so ziemlich jeder Feiertag in den USA von den Einzelhändlern als Konsumfest genutzt wird, ist der Patriot Day, wie Ex-Präsident George W. Bush den Gedenktag nannte, heilig. Die Mitarbeiter, die den Clip produzierten, bekamen Morddrohungen. Der Laden bleibt nun vorerst geschlossen.
Zwar ist der elfte September kein offizieller Feiertag, aber um 8 Uhr 46, dem Zeitpunkt des ersten Einschlages, bleibt die Zeit im sonst ruhelosen New York City trotzdem für einen Moment stehen. Es ist vielleicht der andächtigste Tag des amerikanischen Jahres, andächtiger als die meisten religiösen oder quasi-religiösen Feiertage wie Weihnachten, Thanksgiving oder der Independence Day, an denen Konsum und Entertainment meist die größere Rolle spielen. Das Trauma sitzt so tief wie kein zweites in den USA – und es will einfach nicht vergehen. 15 Jahre später wissen Menschen auf der ganzen Welt noch immer, was sie zum Zeitpunkt der Anschläge getan oder gegessen haben.
Bis heute sind die Ereignisse von diesem Tag für viele Menschen so unwirklich, dass sich noch immer hartnäckige Zweifel daran halten, ob sie überhaupt so passiert sind. Erst kürzlich schaffte es ein Aufsatz über die vermeintlich gezielte Sprengung der Twin Towers erstmalig in ein wissenschaftliches Fachmagazin. Der Hunger auf konspirative Theorien wird immer dann größer, wenn die Realität überfordet. Und 9/11 überfordert noch immer.
Der Motor der neuen Rechten ist die Angst
Die westliche Welt ist seit 9/11 entrückt, die Narrative um das, was heute Islamismus genannt wird, und die schwer trennbare assoziative Verbindung zum Wort Terror, sind ein rhetorisches Produkt der Anschläge. Die Angst vor dem Terror ist die Lieblingsangst der Islamfeinde. Wenn die alten und neuen Rechten diesen Trumpf ziehen, dann sticht er. Die Diskurse der AfD, der UKIP oder dem Front National brodeln zwar auch aufgrund der Flüchtlingskrise, den Stein für sie ins Rollen gebracht hat aber die Angst. Ohne 9/11, ohne die Panik vor dem möglichen Terror im eigenen Land, würde sich der Westen für den sogennanten Islamischen Staat womöglich deutlich weniger interessieren.
Der aufgeheizte Wahlkampf in den USA schürt in diesem Jahr die Angst besonders. Im Vorfeld wurden Befürchtungen laut, das islamische Opferfest Eid al-Adha könne auf den elften September fallen. Feiernde Muslime am Nationaltrauertag der USA hätten missverstanden werden können. Da das Datum für das Fest aber kurzfristig nach Beobachtungen des Mondes festgelegt wird, ist es nun doch einen Tag später. Die in den letzten fünfzehn Jahren etwas abgekühlte Stimmung gegenüber Muslimen hat wieder neues Feuer gefangen. Ein Bericht der Georgetown University stellte fest, dass Angriffe auf Muslime seit Ende 2015 stark angestiegen sind. Das entspricht etwa dem Beginn des aggressiven Wahlkampfes von Donald Trump, der zwischendurch unter anderem ein Einreiseverbot für Muslime forderte. Solche Worte können in den USA schnell tödlich enden. Erst im August wurden ein Imam und sein Assistent in der Nähe einer New Yorker Moschee erschossen. Auch wenn auf den Straßen von Big Apple hin und wieder Burka, Hidschāb oder Tschador zu sehen sind, hält sich das eine Prozent der amerikanischen Muslime mit seiner öffentlichen Präsenz so sehr zurück wie kaum eine andere religiöse Gruppe.
Immer wieder aufstehen
Schon einige Tage vor der offiziellen Gedenkzeremonie leuchtet in New York das „Tribute in Light“. Zwei gigantische Xenon-Scheinwerfer strahlen nach Sonnenuntergang senkrecht in die Luft, unweit vom ehemaligen Standort der Twin Towers. Die zwei großen Lichtkegel können New Yorker und ihre Gäste in klaren Nächten von allen fünf Stadtvierteln und aus bis zu 100 Kilometern Entfernung sehen. Das eigentliche Denkmal am Ground Zero ist ein Anti-Denkmal: Wo einst die beiden Türme standen, sind seit 2014 eine Art Fußabdrücke – zwei quadratische Einlassungen im Boden, gefüllt mit Wasser und beschriftet mit den Namen der knapp 3.000 Opfer. Hier wird am Sonntagmorgen um 8 Uhr 46 eine Glocke geschlagen, um eine Schweigeminute einzuleiten. Anschließend werden alle Namen verlesen.
Amerika wäre aber nicht Amerika, wenn es selbst auf den traumatischen Moment der Schwäche nicht mit einer Machtdemonstration antworten würde. „Fall sieben Mal hin, steh acht Mal auf“, lautet hier ein Sprichwort. Seit 2014 steht ebenfalls am Ground Zero das One World Trade Center. Es ist über 500 Meter hoch, um genau zu sein: 1776 Fuß, in symbolischer Erinnerung an die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776. Höher noch als das Empire State Building und noch einmal knapp 100 Meter höher als das bis dato höchste Gebäude der USA, der Willis Tower in Chicago, soll das bombensichere Hochsicherheitskonstrukt ein Zeichen von Stärke und Widerstand sein.
Eine Fahrt nach oben kostet 34 Dollar und bietet den wohl besten Ausblick über die Stadt. Die Wände des One World Trade sind aus Spezialstahl, die Beschichtung feuerfest und die Fluchtwege extra breit. Kaum etwas repräsentiert die sanfte Widersprüchlichkeit von Kraft und Angst besser. Das One World Trade ist ein Zeichen der Stärke – und doch für einen potentiellen Anschlag gerüstet. Dieser Turm hat zwei Bedeutungen: Die USA bleiben – aber die Narbe von 9/11 bleibt auch. Auf den Eintrittskarten zum One World Trade steht: „See forever“.
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