Nun mutet es schräg an, aber es ist gerade einmal knapp einen Monat her, da bezeichnete Bundesinnenminister Seehofer den Rechtsextremismus als „größte Bedrohung in unserem Land“. „Damals“ dominierte noch kein Virus die Schlagzeilen, sondern ein rassistischer Terroranschlag. Tobias R. erschoss in der hessischen Kleinstadt zehn Menschen, neun davon hatten einen Migrationshintergrund. Der Täter, der sich anschließend selbst umbrachte, hinterließ ein Manifest voller verschwörungsideologischer, paranoider und rassistischer Ausführungen. Unter anderem glaubte er, dass eine kleine Elite die Welt kontrolliert und bestimmte „Völker“ nicht existieren dürften, schon gar nicht in Deutschland. Der Generalbundesanwalt sah kurz darauf gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund und ermittelte wegen Terrorverdachts.
Laut Informationen des Recherchenetzwerks von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung kommt das Bundeskriminalamt nun in einem Abschlussbericht der Ermittler zu der Einschätzung, der Attentäter sei nicht primär politisch motiviert gewesen. Die Tat selbst sei rassistisch, ein klassischer Rechtsextremer wäre der Täter jedoch nicht. Vielmehr sei er von Paranoia getrieben gewesen und habe sein Ziel gewählt, um maximale Aufmerksamkeit zu erlangen. Der Terrorist spielte in einem Fußballverein mit Menschen, die überwiegend einen Migrationshintergrund aufweisen. Und: Er habe häufig seinem Schwarzen Nachbarn geholfen. Ein Humanist, quasi.
Es handelt sich bei diesen Informationen um keine abschließende Einschätzung, wie die Bundesanwaltschaft mitteilte. Sollte der Wortlaut des Berichts aber den Informationen ähneln, die die Recherchekooperation ermittelt hat, wäre es nicht das erste Mal, dass ein Tatmotiv zunächst als nicht rechtsextremistisch eingestuft wird. 2016 stürmte der 18-jährige David S. ein Einkaufszentrum in München und erschoss neun Menschen, viele mit Migrationshintergrund. Hier kamen die Ermittler zunächst zu der Einschätzung, der Täter sei zwar rechtsgesinnt, habe aber aufgrund einer Kränkung gehandelt, er sei ein „psychisch kranker Rächer“. Das später vom Landeskriminalamt veröffentlichte Gutachten räumte schließlich doch eine rechtsextreme politische Motivation ein.
Tat ohne Täter
Diese Gegenüberstellung von „rechtsextrem“ und „wahnhaft“ produziert nicht nur offenkundige Paradoxien wie den rechten Täter ohne rechte Tat (München) oder die rechte Tat ohne rechten Täter (Hanau), sie ist gefährlich. Die AfD Sachsen-Anhalt bezog sich auf den antisemitischen Attentäter von Halle, als sie von einem „konstruierten“ politischen Tatmotiv sprach. Die Pathologisierung von Tat und Täter soll erkennen lassen, dass es eine Schwelle zum Wahn gebe, ab der man sich mit der politischen Gesinnung des Täters nicht mehr beschäftigen muss. Und sie offeriert eine sedierende Ohnmacht: Psychisch Kranke gibt es nun mal, da kann man nichts machen.
Kurz nach den Anschlägen in Hanau sagte die Kriminologin Britta Bannenberg der Zeit: „Schwer psychisch krank zu sein und rechtsextrem und rassistisch – das ist kein Widerspruch.“ Psychische Krankheiten gibt es immer, aber sie nehmen in ihrer konkreten Ausformung die Form an, die eine Gesellschaft ihnen im jeweiligen diskursiven Kontext anträgt.
Die Unterscheidung zwischen einer „rechtsextremen Gesinnung“ und Verschwörungsideologien, die das BKA offenbar anstrebt, macht ratlos. Zwar gibt es auch im linken politischen Spektrum Anhänger von Verschwörungstheorien; den in den vergangenen Jahren erstarkten rechten und rechtsextremen Diskursen liegen jedoch sehr häufig Mythen zugrunde, die einen Ausnahmezustand entwerfen: der Kulturkampf, der „Tag X“. Rechte proben den Aufstand, impfen ihn ein, sie ordnen komplexen Problemen konkrete Schuldige zu, ganz gleich, ob sie schuldig sind. Die Idee, dass hinter jeder gefühlten Ungerechtigkeit ein Feind aus Fleisch und Blut steht, den man gewaltsam bekämpfen muss, ist ihre Essenz.
Paranoia und Verschwörungswahn entstehen nicht im luftleeren Raum, sie können erst manifest werden, wenn sie an dissonante Gefühle andocken. Statt sich mit der Erkenntnis zufriedenzugeben, dass die Täter psychisch krank waren, könnte man sich mit der Frage beschäftigen, warum die umhergeisternden Katastrophenszenarien einigen offenbar derartig plausibel erscheinen, dass sie ihr Leben dafür hergeben und weiteres nehmen wollen. Es ließe sich auch darüber nachdenken, wie sich psychische Krankheiten mit rechten und Verschwörungsideologien verbinden und immer wieder zu rassistischen Morden führen. Statt die leidige Gegenüberstellung von „rechts“ und „wahnhaft“ detailliert voranzutreiben, könnte man sich auf den Gedanken einlassen, dass beides hervorragend miteinander harmoniert.
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