Der Psychiater Mazda Adli beobachtet einen deutlichen Zuwachs der psychischen Belastungen im Vergleich zum Anfang der Pandemie. Zudem bereitet ihm Sorge, dass sich der Zustand vieler eigentlich stabiler Patient*innen wieder verschlechtere. Im Gespräch erklärt er die Zusammenhänge zwischen Pandemie, Wirtschaftskrise und psychischen Erkrankungen und gibt Tipps für gegenseitige Unterstützung.
der Freitag: Herr Prof. Adli, wie geht es Ihren Patient*innen zur Zeit?
Mazda Adli: Die Pandemie zeigt deutliche Spuren. Es gibt immer mehr Menschen, die unter chronischem Stress leiden und belastet sind durch die enormen Folgen, die die Pandemie für ihren Alltag hat. Viele sind verunsichert oder zeigen verschiedenste Sorgen und Ängste. Dabei spielen Zukunftsängste häufig eine Rolle. Wir sehen auch viele einsamkeitsbezogene Probleme, gerade in einer Stadt wie Berlin. Und natürlich gibt es auch die Angst zu erkranken oder dass sich Angehörige anstecken, was nochmal durch das Aufkommen der neuen genetischen Mutationen befeuert wird.
Sind all diese Sorgen der Menschen bereits seit Frühjahr 2020 zu beobachten oder tritt das erst seit dem zweiten Lockdown light im Herbst/Winter auf?
Die Zeichen für eine Zunahme psychischer Belastung zeigen sich schon seit Beginn der Pandemie. Dabei gibt es Schwankungen, die mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung der Pandemiedynamik folgen. Hinzu kommen allerdings auch noch gewisse Gewöhnungseffekte solange die Infektionszahlen über eine Zeit gleich bleiben oder besser werden und damit auch das eigene Infektionsrisiko nicht größer wird. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Menschen derzeit – in der zweiten Hälfte des zweiten Lockdowns – deutlich belasteter sind als zum Anfang der Pandemie. Jetzt wird ziemlich klar: Sowohl die psychischen als auch die wirtschaftlichen Ressourcen der Menschen brauchen sich auf.
Wie kommen Sie zu diesem Eindruck?
Wir sehen ein steigendes Patient*innennaufkommen, eine steigende Inanspruchnahme zum Beispiel auch unserer Ambulanz. Ähnliches wird auch aus anderen Kliniken und Praxen geschildert. So ist es zurzeit noch viel schwieriger als vorher einen freien Psychotherapieplatz zu bekommen. Die Wartezeiten werden überall länger. Parallel dazu berichten die Krankenkassen von einer Zunahme von Krankheitstagen aufgrund psychischer Erkrankungen seit Beginn der Pandemie.
Ich sehe dabei viele Patient*innen mit depressiven Beschwerden und, wie gesagt, viele mit Angstsymptomen. Wir erleben auch, dass uns bekannte Patient*innen, die zum Teil jahrelang stabil waren, plötzlich wieder dekompensieren. weil das, was sie lange stabil gehalten hat, jetzt nicht mehr verfügbar ist.
Was sind denn das für Dinge, die ihre Patient*innen stabil halten?
Das sind zum Beispiel soziale Kontakte, etwas, das für die psychische Gesundheit sehr wichtig ist. Als soziale Wesen brauchen wir das Miteinander. Gerade in der Behandlung und in der Rehabilitationsphase nach einer Depression ist der Aufbau eines stabilen sozialen Netzwerkes sehr wichtig und das geht eben jetzt nicht mehr. Dazu kommt: Für viele Menschen fällt der übliche Arbeitsalltag weg. Das ist etwas, das den Tag strukturiert. Außerdem kein Sport, kein Kulturleben, kein Vereinsleben, etc. Der Wegfall der Alltagsroutine und der Wegfall von sozialem Miteinander, der Rückzug in die eigenen vier Wände – was das Gebot der Stunde ist – das ist für Menschen, die seelisch belastet oder psychisch erkrankt sind, besonders ungünstig.
Es gibt Menschen, denen setzt die Situation besonders zu. Andere wiederum scheinen schon seit einer ganzen Weile gut zurechtzukommen mit social distancing und dem Wegfall der üblichen Routine. Wovon hängt das ab?
Das hängt sehr von der psychischen Widerstandskraft, der sogenannten „Resilienz“, ab. Sie beruht auf einer Vielzahl von Faktoren, zum Beispiel darauf, wie flexibel und anpassungsfähig man im eigenen Verhalten auf Veränderungen reagieren kann. Oder auf der Fähigkeit, eine optimistische Sicht zu bewahren, obwohl es viele Schwierigkeiten gibt und wie gut wir mit negativen Emotionen umgehen können. All diese Faktoren bestimmen, wie gut man psychisch durch eine Krise kommt. Das gilt sowohl für die jetzige Pandemie als auch für andere schwierige Situationen.
Zur Person
Prof. Dr. Mazda Adli ist Psychiater und Stressforscher. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, CCM, an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Zuletzt erschien von ihm Stress and the City: Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind bei C.Bertelsmann
In den vergangenen Wochen wurde in den Medien vielfach die sogenannte Copsy-Studie erwähnt, die sich mit den Belastungen von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie beschäftigt. Gibt es auch schon verlässliche Daten und Informationen über die psychische Gesundheit von Erwachsenen?
Die gibt es durchaus. Es gibt verschiedene Studien aus unterschiedlichen Ländern, die auch die Situation von Erwachsenen zeigen. In Deutschland hat sich etwa die NAKO, die Nationale Kohorte – eine riesige Studie, die über Jahrzehnte Menschen beobachtet – mit der Situation der psychischen Belastung beschäftigt. Wir haben auch selbst eine Studie durchgeführt. Alle diese Studien zeigen, dass es einen erhöhten Grad an Depressivität, Ängstlichkeit, Sorgen und Schlafstörungen gibt. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade junge Erwachsene besonders betroffen zu sein scheinen. Da sind die Studien aus unterschiedlichen Teilen der Welt fast einstimmig.
Können wir davon ausgehen, dass es den Menschen, die jetzt gerade Schwierigkeiten haben, schnell besser geht, sollte sich die gegenwärtige Lage auch verbessern?
Das ist so allgemein schwer vorauszusagen. Was man einerseits sieht, ist dass der Grad psychischer Belastung mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung widerspiegelt, was sich infektions-epidemologisch tut. Also: Gehen die Infektionszahlen hoch, gehen wenig später auch die Zahlen für psychische Belastungen hoch. Gehen die Infektionszahlen runter, nehmen auch die psychischen Belastungen wieder etwas ab. Das sind nachlaufende Spiegeleffekte. Aber: Wir wissen trotzdem noch lange nicht, wie es mit den Langzeitfolgen aussieht, das ist sehr schwer abschätzbar.
Es gibt allerdings etablierte Zusammenhänge: Pandemien sind oft mit Wirtschaftskrisen verbunden. Und Wirtschaftskrisen sind allgemein mit einer Zunahme psychischer Störungen in der Bevölkerung verbunden. Das ist gut bekannt. In Deutschland ist das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr um rund fünf Prozent zurückgegangen. Damit sinkt die Zahl der Erwerbstätigen und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wächst. Das ist wiederum ein gut bekannter Risikofaktor für psychische aber auch körperliche Erkrankungen.
Würden Sie sagen, dass die Ängste und Belastungssituationen, die entstehen, gar nicht unbedingt etwas mit der Angst vor Ansteckungen zu tun haben, sondern vielmehr mit der Vorstellung, dass es sobald nicht wieder besser werden wird?
Die psychische Belastung kommt vor allem durch die erheblichen Veränderungen im Alltag der Menschen. Es sind fast alle wesentlichen Lebensbereiche betroffen: Arbeit, Freizeitgestaltung, soziale Aktivitäten, Familienleben, etc. Alle diese Veränderungen erzeugen Stress. Dazu kommt bei vielen das Gefühl, einer schlecht kontrollierbaren Entwicklung ausgeliefert zu sein. Das ist nochmal ein besonderer Stressverstärker. Die unmittelbare Angst vor der Ansteckung spielt sicherlich auch eine Rolle, aber im Vergleich zu den genannten Faktoren eine untergeordnete.
Sie erwähnten gerade die Kontrollierbarkeit. Welche Rolle spielen denn dabei die Medien und die Politik, die häufig den Eindruck erwecken, als ob die Situation im Griff wäre – und dann oft nachjustieren müssen?
Das kann man sicherlich niemandem zum Vorwurf machen. Vieles lässt sich nur auf Sicht planen. Das liegt in der Natur einer Pandemie. Das erleben Sie als Medienvertreter genauso unvorhersehbar wie die Leser oder jemand anderes.
Ich finde es daher wichtig, dass wir in der Kommunikation – Medien, Politik und Wissenschaft gleichermaßen – auch den Optimismus fördern. Eine optimistische Sicht wirkt dem Gefühl einer unkontrollierbaren Entwicklung ausgeliefert zu sein entgegen. Denn ohne Optimismus, ohne Hoffnung kommt hier keiner durch. Hoffnung ist echte Währung für die Psyche. Die Fähigkeit eine optimistische Haltung einzunehmen ist ein bekannter Resilienzfaktor in der Psychologie. Und es gibt ja auch genug Anlass zu Optimismus. Bei allen Unvorhersehbarkeiten, mit denen wir es zu tun haben – wie etwa den neuen Mutationen – ist es klar, dass wir bereits den Weg aus der Pandemie raus beschritten haben. Es ist Land in Sicht. Und zwar: Auch weil die Bevölkerung sich im wesentlichen an die Maßnahmen gehalten hat. Das ist ein Gemeinschaftserfolg. Sich das klar zu machen motiviert. Wir tun uns hingegen keinen Gefallen, wenn wir mit alarmistischen Headlines arbeiten.
Werden wir es in den nächsten Jahren, also etwas längerfristig geschaut, mit einer Zunahme psychischer Erkrankungen zu tun haben?
Ich rechne damit. Ich rechne auch damit, dass uns die Pandemie und ihre Bekämpfung noch eine Weile in den Knochen – oder besser gesagt: in den Köpfen – stecken wird. Viele Menschen reißen sich jetzt noch zusammen, sind im Durchhaltemodus und bündeln ihre Kräfte, aber auch die sind irgendwann aufgebraucht. Stresssymptome bei Dauerbelastungen treten oft erst dann richtig zutage, wenn die äußere Belastung nachlässt. Wir stecken eben nicht nur in einer infektiologischen sondern auch in einer psychologischen Krise. Die Versorgung der psychischen Narben, die die Pandemie hinterlässt, wird uns noch eine Weile beschäftigen.
Gibt es etwas, was Ihnen zur Zeit Hoffnung macht?
Mir macht die Impfung Hoffnung. Auch wenn vieles dabei nicht rund läuft und viele Menschen enttäuscht und unzufrieden sind. Es ist ja auch erlaubt, sich über Dinge aufzuregen. und gleichzeitig ist es für jemanden, der mit Epidemiologie und Infektionsdynamiken nicht so vertraut ist, ganz schwer zu verstehen, wenn man zum Beispiel hört, dass der AstraZeneca-Impfstoff soundsoviel Prozent weniger schützt. Dann wirkt das wie eine Katastrophe, ist es aber überhaupt nicht. Die Unterschiede sind in der Praxis nämlich marginal. Daher: Wir haben Anlass zur Hoffnung. Und wir alle zusammen können uns ganz schön glücklich schätzen, dass wir uns gegen dieses Virus impfen lassen können. Stellen Sie sich mal für einen Moment vor, wir hätten heute keine Impfstoffe, sondern müssten die Pandemie bis zum Schluss aussitzen. Eine fürchterliche Vorstellung!
Dann lassen Sie uns etwas hoffnungsvoll und praktisch schließen: Was kann ich tun, wenn ich merke, dass es meinen Mitmenschen in der Krise nicht gut geht?
Das wichtigste ist: Sprechen Sie diese Person darauf an. In der Pandemie, die viele vor ähnliche Probleme stellt, hilft es zu sehen, wenn andere mit ähnlichen Sorgen vielleicht eine besonnenere Haltung einnehmen oder mehr Akzeptanz an den Tag legen können. In der Psychotherapie spricht man von Perspektivwechsel. Dazu kommt: Wenn es einem nicht gut geht, hilft es oft schon, die zwischenmenschliche Kommunikation zu intensivieren. Menschliche Nähe ist ein psychologisches Grundbedürfnis und kommt gerade für so viele zu kurz. Es gibt auch erste Zahlen, die eine Zunahme von Einsamkeit seit Beginn der Pandemie nahelegen. Betroffen sind besonders junge Erwachsene. Und Alleinlebende. In Berlin wohnen, wie in anderen deutschen Großstädten, etwa ein Drittel der Menschen allein. Und jeder ist meiner Beobachtung nach im Moment dankbar für soziale Kontakte und auch emotional bedürftiger. Verbundenheit hilft uns allen.
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