Es gibt nur wenige Journalist*innen, denen man so etwas wie Weltruhm andichten könnte. Glenn Greenwald dürfte zu ihnen zählen. Für den US-Reporter, der mit der Veröffentlichung der Snowden-Enthüllungen über den US-amerikanischen Geheimdienst NSA berühmt wurde, waren die vergangenen neun Jahre dennoch eine karrieristische Achterbahnfahrt.
Greenwald erhielt für die NSA-Story den Pulitzer-Preis und verließ 2014 den Guardian, um ein eigenes journalistisches Projekt namens The Intercept zu verfolgen. Das Projekt endete in einer Schlammschlacht. Greenwald warf Ende 2020 The Intercept vor, einen Artikel von ihm zensieren zu wollen, der sich mit Joe Bidens Verbindungen zu China und der Ukraine beschäftigt. The Intercept konterte, Greenwald wolle fragwürdige Behauptungen, die denen Donald Trumps ähnelten, als Journalismus verkaufen. Greenwald verließ die publizistische Plattform wütend, aber nicht ohne anzukündigen, dass er seinen Artikel trotzdem veröffentlichen würde. Geeigneter dafür erschien ihm eine noch recht junge Online-Plattform namens „Substack“, die er als einen Ort beschrieb, an dem Autor*innen „journalistisch arbeiten können, ohne sich dem zunehmend repressiven Klima ausgesetzt zu sehen, das Mainstream-Medien im ganzen Land verschlingt“.
Mit weniger Furor, aber aus ähnlichen Motiven heraus verließ Ende 2020 die britische Feministin und Kolumnistin Suzanne Moore ihre langjährige redaktionelle Heimat The Guardian (der Freitag 50/2020). Auch sie veröffentlicht seitdem etwa jede Woche auf Substack.
Für nur fünf Dollar mehr
Was ist Substack? Die im Jahr 2017 von Chris Best, Hamish McKenzie und Jairaj Sethi in San Francisco gegründete Plattform zählt aktuell gerade einmal 20 Mitarbeiter*innen. Und sie nutzt eine für das Internet-Zeitalter geradezu prähistorische Technik: den Newsletter. Die Nutzer*innen abonnieren einen Kanal – das können einzelne Personen oder Kollektive sein – und bekommen neue Artikel in ihr E-Mail-Postfach. Ein Abo ist kostenlos, wer öfter und vor allem früher informiert werden will, muss zahlen. Für fünf US-Dollar im Monat können Interessierte etwa Glenn Greenwalds Kanal folgen. Die Prämie berechtigt zum Empfang zusätzlicher Inhalte, außerdem können Abonnent*innen dann kommentieren. Es gibt keine Werbung. Von dem eingenommenen Geld gehen derzeit zehn Prozent an Substack, der Rest direkt an die Publizist*innen.
Substack selbst meldete 2020, es verfüge über mehr als 100.000 zahlende Abonnent*innen, wobei die beliebtesten Kanäle Hunderttausende Dollar Umsatz verzeichnen würden – deutlich mehr als ein durchschnittliches Gehalt im Journalismus. Die New York Times wollte angesichts der wachsenden Beliebtheit von Substack und vergleichbaren Diensten bereits im Jahr 2019 einen Trend ausgemacht haben: „Facebook-Chef Mark Zuckerberg wollte, dass wir in einer ‚offeneren und verbundeneren‘ Version der Welt leben. Und Milliarden von uns taten das (…). Heute gehen viele zu einer privateren Form des Teilens über: eine Slack-Gruppe anstelle eines Tweets, eine verschlüsselte Nachricht auf Signal anstatt eines Status-Updates.“ Die Zeitung subsumierte: Die Lust an der All-Verbundenheit schwindet, Twitter wird selbst von eingefleischten Nutzer*innen eher wie ein Moloch aus Hass, Fake News und Werbung wahrgenommen – die Abgeschlossenheit in einer Chatgruppe oder die Passivität eines Newsletters seien da angenehm anachronistische Gegenpole.
Mit dem Dienst „Steady“ gibt es in Deutschland seit 2016 (wohlgemerkt: bevor von Substack die Rede war) ein ähnliches Portal. Die Journalisten Sebastian Esser und Philipp Schwörbel, die zuvor bereits das Online-Magazin Krautreporter entworfen hatten, gründeten die Plattform. Schon bei Krautreporter verfolgten sie die Vision, Online-Journalismus mit einer Art genossenschaftlichem Prinzip rentabel zu machen.
Bei Steady können Nutzer*innen Mitgliedschaften abschließen und die publizierenden Kanäle damit direkt unterstützen. Das Unternehmen nimmt ebenfalls zehn Prozent Provision. Ende 2020 wurden so nach eigenen Angaben über zehn Millionen Euro Mitgliedsbeiträge an die publizierenden Kanäle ausgezahlt.
Bereits jetzt zählt das Portal etwa 1.200 Projekte, von Einzelpersonen wie etwa der Journalistin Melina Borčak über Kollektive wie „Rice and Shine“, einen Podcast der Journalistinnen Minh Thu Tran, Vanessa Vu und Linh Tran, bis hin zu der Satirezeitschrift Titanic oder dem Medienmagazin Übermedien, die Steady als Außenposten für ihre Publizistik nutzen. Auf die 1.200 Kanäle kommen 120.000 angemeldete Mitglieder. Kürzlich holte Steady 40 weitere bekannte Namen auf seine Plattform, unter anderem den ehemaligen FAZ-Feuilletonchef Nils Minkmar, die ehemalige Chefredakteurin des feministischen Online-Magazins Edition F, Teresa Bücker, und Bento-Mitgründer Ole Reißmann.
Mit Steady ist das Prinzip der „Creator Economy“ in Deutschland angekommen. Die Publizist*innen vertrauen dabei auf die Kraft ihrer Community. Klassische publizistische Kanäle wie Zeitungen, Radio- oder Fernsehsender brauchen sie nicht mehr zwingend, zumindest nicht, wenn genügend Leute zahlen. Viele Medienmacher*innen sind zumindest in puncto Reichweite klassischen Redaktionen längst einen Schritt voraus. Zum Vergleich: Teresa Bücker folgen auf Twitter etwa 80.000 Menschen, ein Vielfaches von dem, was bei mancher überregionaler Wochen- oder Tageszeitung noch an Auflage geblieben ist.
Allein an der Monetarisierung solcher Reichweiten auf den sozialen Netzwerken haperte es bislang. Twittern und Podcasten bezahlen keine Miete. Mit Steady und Substack zeichnet sich eine Veränderung ab. Nutzten viele Journalist*innen Twitter, Facebook, Instagram und Co. zuvor, um ihre (bezahlte) Arbeit bei anderen Medienhäusern weiter zu verbreiten, schneiden die Portale diesen Mittelsmann nun weg.
Das „Gatekeeping“ entfällt
Mit dem Wegfall der Redaktionen entfällt auch das, was in der Kommunikationswissenschaft „Gatekeeping“ genannt wird. Wie im Fall von Glenn Greenwald deutlich wurde, können sich auch renommierte Reporter normalerweise nicht über grundsätzliche Auffassungen des Mediums hinwegsetzen, für das sie arbeiten. Bei Substack und Steady gibt es keine Blattlinie, wenngleich beide Portale Richtlinien aufstellen, nach denen diskriminierende Inhalte und alles, was strafbar ist, nicht geduldet werden.
Offenbar soll verhindert werden, dass selbsternannte Renegaten die neue publizistische Freiheit für hetzerische Inhalte nutzen können – so, wie es zuletzt bei Telegram wiederholt der Fall war. Bei Steady heißt es aber auch: „Das Publikum bestimmt, welche Publikation finanzielle Unterstützung verdient, nicht Steady. Wir sind kein Verlag und keine Redaktion, Steady verfolgt keine redaktionelle Leitlinie.“
Steht also eine Zukunft bevor, in der Leser*innen Artikel, Podcasts und andere Inhalte nicht mehr von Zeitungen und Sendern beziehen, sondern direkt von den Erzeuger*innen? Der Kommunikationswissenschaftler Prof. Christopher Buschow beschäftigt sich seit Jahren mit Gründungs- und Zahlungsmodellen im Journalismus. Er beurteilt die Entwicklungen ambivalent: „Dass man darüber tiefgehenden investigativen Journalismus bewerkstelligen kann, dass man hier hartnäckig, dauerhaft, kritisch-kontrollierende Watchdog-Funktion ausfüllen kann über solche Formen von vereinzelter Medienarbeit, da bin ich einigermaßen skeptisch.“ Zudem habe die Freiheit Schattenseiten: „Das ist ohne Frage ein wichtiges Modell, um Journalistinnen und Journalisten wieder eine Finanzierungsgrundlage zu schaffen und um vielleicht auch marginalisierten Communitys die Möglichkeit zu geben, Inhalte und Produkte zu entwickeln. Aber es liegt natürlich auch eine Gefahr darin, weil redaktionelle Prinzipien und die Institution Redaktion überhaupt, wie sie den Journalismus des 20. Jahrhunderts stark gemacht hat, wegfallen.“
In den USA hat das bereits zu Kontroversen geführt. Die feministische Autor*in Jude Ellison Sady Doyle warf im März unter anderem Substack-Autor Glenn Greenwald Feindlichkeit gegenüber trans Personen vor und schrieb (auf ihrem Substack-Kanal!) weiter: „In zunehmendem Maße toleriert und finanziert Substack extreme trans-eliminatorische Rhetorik.“ Aufgrund ähnlicher Vorwürfe verließ Suzanne Moore einst den Guardian. Es bleibt die Frage, wie die Plattformen mit solchen Vorwürfen auf Dauer umgehen werden, ohne früher oder später doch redaktionsartige Eingriffe vornehmen zu müssen.
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