Die Wasserlinie

Es war im Morgengrauen, als der Deich neben uns brach. Gestern Abend erst hatte mich meine Selbsterfahrungs-Therapeutin Natascha-Lou Salomé hierher ...

Es war im Morgengrauen, als der Deich neben uns brach. Gestern Abend erst hatte mich meine Selbsterfahrungs-Therapeutin Natascha-Lou Salomé hierher geschleppt. Während das Notstromaggregat die ganze Nacht auf dem Deich ratterte, waren wir zusammen mit ein paar anderen Leuten pausenlos beschäftigt, Sandsäcke zu schleppen, um das hinter uns liegende Raiffeisen-Lager für Pflanzenschutzmittel vor Überflutung zu schützen. Kurz nach Sonnenaufgang, gerade hatte die bekannte Fernsehreporterin Rebecca Sturm samt Kamera die Deichkrone erklommen, geschah das Unvorstellbare: Der Deich links neben uns rutschte ab, das Wasser schoss mit enormer Wucht an uns vorbei ins Hinterland. Fast im selben Moment passierte das Gleiche auch an der rechten Seite ...
Da standen wir nun zu sechst auf einer einsamen Insel: Fred Müller - ein Mittfünfziger von der Freiwilligen Feuerwehr Mittweida, die Fernsehreporterin Rebecca Sturm, Knut Meyer - Bergsteiger und Greenpeace-Aktivist aus Hamburg, ein griechischer Gastwirt namens Heraklit Anankopoulos, der vor wenigen Stunden sein Restaurant "Perle von Ephesus" in den Fluten der nahegelegenen Kreisstadt verloren hatte, Natascha-Lou und ich. Das völlig durchnässte Stück Deich unter uns wurde mit jedem Moment kleiner. Fred fand als erster die Fassung wieder: "Wir müssen ein Floß bauen!" Im selben Augenblick angelte er bereits mit einem langen Ast nach einem vorbeischwimmenden Kühlschrank. "Ja klar", rief geistesgegenwärtig Rebecca Sturm und fischte zwei bis vor kurzem nagelneue Fernsehgeräte aus dem Wasser, Knut holte mit seinem Bergsteiger-Lasso einen lädierten BMW heran. Heraklit hatte schon einen Herd, zwei entwurzelte Apfelbäume und eine Sattelitenschüssel erwischt. In aller Eile banden wir unsere Arche zusammen, Fred wuchtete sogar noch das Notstromaggregat darauf und während das Wasser bereits die Reste der Deichinsel unter unseren Füßen wegspülte, sprangen wir auf unser Boot, das augenblicklich stromabwärts mitgerissen wurde.
Mit Erschrecken stellten wir fest: Jegliches Rudern war völlig sinnlos, wir waren dem Fluss ausgeliefert und auf uns selbst zurückgeworfen. Heraklit lehnte sich zurück und murmelte sein Katastrophen-Mantra "Panta rhei!" Rebecca Sturm tat das, was sie immer tat, wenn seelisches Vakuum drohte: Sie ging mit Hilfe des Notstromaggregats und der ausrangierten Sat-Schüssel auf Sendung. Von nun an waren wir live auf allen Fernsehbildschirmen Deutschlands zu besichtigen und bemühten uns vor laufenden Kameras darum, eine politisch korrekte und zugleich authentische Haltung zur Katastrophe und zu unserem Schicksal einzunehmen: Auf Betreiben von Heraklit gründeten wir das Philosophische Sextett und stritten uns über die wichtigen Fragen des Lebens und die seelischen Katastrophenängste unseres Unterbewusstseins. Wir lieferten lehrreiche Talkshows im halbsokratischen Stil: Knut erläuterte dem ungläubigen Feuerwehrmann Fred (und dem Fernsehpublikum) anschaulich die komplexen Zusammenhänge von westlichem Lebensstil, Energieverbrauch und Klimawandel, indem er sich als Kevin Costner verkleidete und ein paar Schlüsselszenen aus dem Film Waterworld nachspielte. Heraklit plädierte zunächst für die Dialektik der Aufklärung, reflektierte dann auf den vollständigen Verlust seines Privateigentums und die minimalen Handlungsoptionen auf unserer Arche, um schließlich mit wachsendem Enthusiasmus die Grundzüge eines pragmatischen Katastrophenbuddhismus zu entwickeln. Natascha-Lou steuerte ab und zu ein paar feinsinnige psychologische Kommentare über die seelischen Dimensionen des Flutschreckens bei, den wir erst erfahren könnten, wenn wir in sein wässriges Wesen eintauchten. Wir diskutierten über Meister Eckhardt, den Elbebiber, Heidegger, den Sinn von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen für Flussbegradigungen, die Existenz und Relevanz von Flussgöttern, das Wassermannzeitalter und die Sintflut im Gilgamesch-Epos. Ich selbst durfte in den Gesprächspausen, begleitet von meiner Barden-Harfe, existenzialistische Wasser-Couplets von Hans Albers (Seemanns Braut ist die See ...) und Keimzeit (Lass es laufen den Berg hinunter) zum Besten geben.
Die Philosophischen Archengespräche wurden in den nächsten Tagen der TV-Quotenknüller und retteten viele angeschlagene Seelen. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass wir selbst aus unerfindlichen Gründen nicht gerettet werden konnten. So trieb unser Philosophisches Sextett endlos weiter elbabwärts - vorbei an gefluteten Kläranlagen, Tierkadavern, Öllachen und im Wasser treibenden Gemälde-Reprints von Hieronymus Bosch. Erschöpfte Menschen an beiden Seiten des Flusses winkten uns zu. Wir merkten, dass wir zu einer Art beweglichem Wahrzeichen der Katastrophenbewältigung geworden waren. Politische Gummistiefelprominenz ließ sich vor dem Hintergrund unserer treibenden Arche ablichten. Eines Morgens erhielten wir schließlich sogar die diskrete Einladung, in das spirituelle Kompetenzteam einer großen deutschen Volkspartei einzurücken ... Es war der selbe Moment, als Natascha-Lou plötzlich zu uns sagte: "Freunde, es ist Zeit mit dem Fluss zu sprechen!" Sie schritt, der abgründigen Dialektik von Reflexion und Transformation folgend, zum Heck unseres Bootes und sprang ... Noch während sie durch die Luft schnellte, sahen wir, dass sie sich in eine Flussnixe verwandelte. Als ihr silberner Körper die Wasserlinie kreuzte, donnerte ein Aufklärungstornado der Bundeswehr über den rot verschmierten Himmel.

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