Es war in der Walpurgisnacht, als Natascha-Lou Salomé und ich uns endgültig trennten. Mehrere Jahre lang hatten wir verzweifelt versucht, uns mit unseren beiden Kindern Undine (5) und Lancelot (3) in den gebrochenen Rollenbildern der bürgerlichen Kleinfamilie einzurichten, ohne die jeweilige intellektuelle Unabhängigkeit aufzugeben. Ich lebte vom Erziehungsgeld und meinem zweifelhaften literarischen Ruhm. Natascha Lou forschte für ihre Habilitation und war als Dozentin für feministische Theologie und Argumentationstheorie am Institut for advanced gender studies der örtlichen Universität tätig.
Jedes Jahr zu Walpurgis startete der weibliche Teil ihres Institut einen merkwürdigen spirituellen Betriebsausflug in den Harz: Natascha Lou reiste gemeinsam mit ihren Kolleginnen auf unserem multifunktionalen AEG-Stuben-Staubsauger (Marke Nimbus 2000) zum Hexensabbat auf den Blocksberg.
Wie üblich fand ich mich auch in diesem Jahr am Abend des 30. April kurz vor Sonnenuntergang mit Zange und Schraubenzieher in unserem Wohnzimmer ein, um noch einmal einen letzten technischen Sicherheits-Check am Staubsauger vorzunehmen. Diesmal jedoch stand zu meinem Erstaunen neben dem Nimbus 2000 noch ein zweiter, kleineres Saugaggregat namens Vampyrette auf dem Rollfeld unserer guten Stube. Die Motoren liefen bereits und der ganze Raum dröhnte, als Natascha-Lou, gefolgt von der kleinen Undine ins Zimmer trat. "Das ist doch nicht dein Ernst!", rief ich zu Natascha-Lou hinüber, so laut und sachlich es bei dem mörderischen Staubsauger-Warm-up-Lärm gerade eben ging, "Undine ist doch noch viel zu klein - das ist lebensgefährlich!" - "Ich bin überhaupt nicht zu klein", kreischte Undine und sprang mit urweiblicher Entschlossenheit an mir vorbei auf ihren Flugapparat. Nach dieser eindeutigen Hexen-Geste hätte ich eigentlich einlenken müssen, aber aus Gründen, die tief in meiner angsterfüllten männlichen Sozialisation verborgen lagen, versuchte ich weiter, mit Natascha-Lou über die fragile Ambivalenz frühkindlicher Hexenprägungen zu diskutieren. Unser Streit über die Erziehung unserer Tochter endete damit, dass ich Natascha-Lou laut brüllend "Eliminativen Feminismus" vorwarf, was so ziemlich das Schlimmste war, was ich ihr hätte antun können.
Zum Glück hielten wir in diesem Moment inne und bemerkten betroffen, dass unsere Kinder uns entsetzt anstarrten. Um bei ihnen keine lebenslangen seelischen Verwüstungen auszulösen, beschlossen wir stehenden Fußes, uns für immer zu trennen. Natascha-Lou und Undine flogen zum Hexentanzplatz und ich verließ am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang mit Lancelot das Haus.
Am Kiosk um die Ecke zählte ich die Münzen in meiner Hosentasche, kaufte mir die Lokalzeitung und schlug die Seite mit den Wohnungsanzeigen auf. Sofort sprang mir eine Annonce ins Auge, die zu meiner augenblicklichen Finanzlage passte: "Supergünstig: 0,99 Euro/qm saniert, möbliert, interessantes Wohnumfeld, sofort einziehen!" Ich suchte die nächste Telefonzelle und rief den Vermieter an. Wie nicht anders zu erwarten, verabredeten wir uns an einer Straßenecke in einem der sozial depravierten Viertel der Stadt.
Über einen Seiteneingang führte mich der Eigentümer in sein Haus. Im zweiten Stock besichtigten wir eine möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung, ich zahlte ihm die erste Monatsmiete und fiel, während Lancelot mich noch unsicher anstarrte, erschöpft in den nächsten Sessel. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen. Abends, als ich Lancelot ins Bett bringen wollte, setzte plötzlich genau unter uns lautes rhythmisches Frauenstöhnen ein, das von lasziver Musik untermalt wurde. Nichts Gutes ahnend, rannte ich die Treppe runter, durch den Seiteneingang ins Freie und dann zur Vorderfront des Hauses. An der Fassade blinkte eine riesige Leuchtreklame mit einer nackten Frau. Darüber stand "Moulin Rouge - Erotikcenter".
Ich dachte an meinen desolaten Hormonhaushalt und an die Gefahren für die psychische Entwicklung meines Sohnes in diesem interessanten Wohnumfeld und rief verzweifelt den Vermieter an. "Ach so, tut mir Leid, kein Problem! Ich habe noch andere schöne billige Wohnungen." In den nächsten Wochen wohnten mein Sohn und ich wechselweise in so ziemlich allen Rotlicht-Etablissements der Stadt. Nach und nach passte ich mich unauffällig meinem neuen sozialen Umfeld an, besorgte mir im Second Hand ein paar glitzernde Las-Vegas-Cowboystiefel und ließ mir Nase, Mund und Ohren piercen. So ausgestattet, verließ ich eines Abends mit Lancelot unsere neueste Wohnung, die sich diesmal über dem Massagesalon "Dolly Buster" befand, als der Lokal-Papparazzi der Bild-Zeitung auf uns zusprang und uns mit einem Blitzlichtgewitter überschüttete. Ehe ich noch reagieren konnte, war der Mann auch schon verschwunden. Nichts Gutes ahnend, gab ich Lancelot bei den netten Frauen des Massagesalons ab und stürzte zum örtlichen Verlagshaus von Bild. Tatsächlich: als ich dort ankam, ratterten bereits die ersten BILD-Zeitungen für den nächsten Morgen aus der Maschine. Auf der Titelseite prangte groß ein Foto von mir und Lancelot vor dem "Dolly-Buster-Salon". Daneben befanden sich noch weitere Abbildungen von all meinen anderen halbseidenen Wohnstätten der vergangenen Wochen und darüber stand die fette Zeile: "Der Rotlichtbaron und sein Sohn".
Um Gottes willen! Wenn diese Ausgabe erschien, war ich für immer erledigt. Geistesgegenwärtig sprang ich zur Druckerpresse, hielt sie an und klemmte mich, so gut es ging, zwischen die noch leicht rotierenden Walzen. Die Druckereiarbeiter starrten mich an. Auf mein Verlangen hin wurde der Redaktionsleiter gerufen und ich flehte ihn an, er möge die Ausgabe stoppen. Er lächelte nur höhnisch, so dass ich mir in höchster Not eine passable Story einfallen ließ und mit amerikanischem Akzent sagte: "Wissen Sie, ich bin natürlich kein Rotlichtbaron, sondern der berühmter Sexual-Psychologe Kurt Mooneye aus Berkeley/California und ich arbeite very conspiratively an einer Studie über das Thema: Was deutsche Männer wirklich von Frauen wollen und umgekehrt." Kaum hatte ich den letzten Satz ausgesprochen, da hellte sich die Miene des Chefredakteurs merklich auf. Er zerriss demonstrativ eine der bereits gedruckten Ausgaben der morgigen BILD und zerrte mich unter fürchterlich feuchten Küssen aus der Maschine. Er hatte in mir den lang gesuchten Experten für eine neue zugkräftige Themen- und Werbekampagne seiner Zeitung entdeckt. Unter dem Titel Was Männer von Frauen wollen und umgekehrt gab ich ab jetzt als Prof. Dr. Mooneye täglich exklusive Experten-Interviews für BILD Deutschland, AUTO-BILD und BILD der Frau. Das, was ich dabei an sexualpsychologischen Kenntnissen von mir gab, stammte im Wesentlichen aus meinen feministischen Lektürekursen bei Natascha-Lou. Über Nacht wurde ich berühmt und schrieb kurz nacheinander die Bücher Implizite Männlichkeit, Die Walpurgis-Konstellation, Sekundäre Geschlechtsmerkmale und (gemeinsam mit Edward Said) Männer - eine erfundene Tradition. Man lud mich zu allen möglichen Talkshows, TV-Couch-Ins, zu Festvorträgen und Podiumsdiskussionen. Ich wurde gleichzeitig in die Berliner Akademie der Künste und der Wissenschaften aufgenommen.
Bei der festlichen Einweihung der Autonomen Frauenbibliothek im sächsischen Geithain, die den vortrefflichen Namen "Kurt Mooneye" tragen sollte und zu deren Eröffnung ich entsprechend geladen war, traf ich Natascha-Lou schließlich wieder. Es war Mittwoch vor Himmelfahrt, ich sah Natascha Lou in die grünen Augen und war total verunsichert. In keinem der von mir verfassten psychologischen Kochbücher stand ein Rat, wie ich mit der akuten Situation hätte umgehen können. Zum Glück überreichte Natascha-Lou mir in diesem Augenblick ein Schreiben, das in einem blauen UNO-Briefumschlag steckte. Für eine globale Studie mit dem Titel Zukunft der Männlichkeit? sollten Natascha-Lou und ich am bevorstehenden Männertag gemeinsam eine Datenerhebung in den Männertagshochburgen des sächsischen Hinterlandes machen. Wir diskutierten die ganze Nacht über die komplizierte Dialektik von Erotik, Feminismus und kommerziellem Erfolg. In aller Frühe wartete dann ein Hubschrauber hinter dem Haus. Der Pilot gab uns die Fallschirme, den TÜV-geprüften, hochsensiblen "Zukunftsfähigkeits-Detektor für Männer" (ZDfM), der zur Datensammlung dienen sollte und zwei kleine grüne Tabletten. Wir stiegen in den Hubschrauber und schluckten die Pillen. Innerhalb weniger Sekunden wechselten Natascha-Lou und ich unsere sexuellen Identitäten bis hin zur Kleidung. Wir starrten den Piloten entgeistert an. "Keine Angst - die Tabletten wirken nur 24 Stunden. Der Identitätswechsel ist aus Gründen wissenschaftlicher Objektivität bei der Datenerhebung mit dem ZDfM unbedingt erforderlich. So jetzt haben wir das Zielgebiet erreicht, Fallschirme anlegen und abspringen!"
Wir taten wie uns geheißen und landeten mit unserem Messgerät irgendwo südlich von Geithain zwischen fröhlich grölenden Männergruppen auf bunt dekorierten Fahrrädern, Kutschen, Traktoren und fahrbaren Bierkästen in der blühenden Mai-Landschaft. - Höllischer Lärm von Tröten, Pfeifen und Hupen! Infernalische Stimmungsmusik aus den mobilen Gigawatt-Boxen des bierbäuchigen DJ "Kanone"! Wir hielten das ZDfM unauffällig zwischen all diese wundersamen Erscheinungen kollektiver männlicher Authentizität, wobei ich ob meiner temporären weiblichen Identität ständig der Begegnung mit den schwarzen Seiten meines eigenen, immer besoffener werdenden Geschlechts ausgesetzt war.
Am Nachmittag wurde unser Forschungsteam auf einen büchsenübersäten Festplatz mit Bierbuden und Bühne im Zentrum einer westsächsischen Ansiedlung gespült. Wir waren ziemlich kaputt und angenervt und überredeten den jetzt total alkoholisierten DJ "Kanone", uns das Mikro zu überlassen. Wir stellten das ZDfM ab und stolperten wild entschlossen ins nachmittägliche Rampenlicht. Dort standen wir dann trotzig Rücken an Rücken und trugen mit der schmachtenden Unterstützung zweier verstimmter Mandolinen obskure Liebesgedichte meines Urahnen Melchior von Mondaugen vor, eines wandelnden Troubadours aus dem 13. Jahrhundert. Außer ein paar staunenden bockwurstkauenden Krähen hatten wir jedoch kaum noch relevante Zuhörer, denn es war gegen 17 Uhr und der diesjährige Männertag im Wesentlichen abgeschlossen. Vor uns hingen über hundert Bierleichen an den Tischen. Weitere Männer lagen rings verstreut in den Büschen, wo der Filmriss sie beim Pinkeln erwischt hatte. Ab und zu rappelte sich eine Gestalt mit glasigen Augen auf und schlich torkelnd davon, ohne von unserer Bühnenshow Kenntnis zu nehmen. Schließlich kamen die ersten Frauen und Kinder mit Schubkarren und Bollerwägen, um ihre wahrnehmungsresistenten Haushaltsvorstände wegzuschaffen.
Unsere UNO-Mission war beendet. Es knackte im Lautsprecher. DJ "Kanone" war noch einmal erwacht. Ein letztes Mal wummerte volle Kanne Männertags-Stimmungsmusik über den Festplatz. Natascha-Lou und ich tanzten unvermittelt "Samba mit mir, Samba, Samba die ganze Nacht", sprangen von der Bühne und verschwanden kichernd in den faltenreichen Gewändern dieses Nachmittags.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.