Von der moralischen Überlegenheit in absentia: Antwort auf den Beitrag von Christian Baron

Meinungspazifismus Ist es wirklich falsch, einem genozidal angestimmten Aggressor bewaffneten Widerstand zu leisten? Sich im Kontext des russischen Angriffkrieges an dem ukrainischen Widerstand abzuarbeiten, zeugt von Realitätsferne und Heuchelei.

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In seinem neusten Beitrag im Freitag sagt Christian Baron, im Fall eines Überfalls auf Deutschland verteidigte er „sein Land“ nicht, sondern zöge es vor zu fliehen. Christian Baron nutzt dieses persönliche Bekenntnis vor allem dazu, seine Meinungen über die Ukraine ausführlich darzubieten. Im Kontext der heutigen Ukraine-Debatte ist seine Einstellung bezeichnend und diskussionswürdig. Im Folgenden ein paar Gedanken und Kommentare von mir.

Zunächst möchte ich erwähnen, dass ich nach langen Überlegungen durchaus zu dem Schluss gekommen bin, dass eine unbedingte pazifistische Einstellung als ein individuelles Recht respektiert werden sollte. Gleichzeitig taugt diese jedoch kaum dazu, den Status einer universellen moralischen Pflicht zu beanspruchen. Ich lade ein zum Gedankenexperiment: Angenommen sei eine Situation, in der 99 Prozent der Menschheit unbedingte Pazifisten wären und nur ein Prozent eine organisierte Bande von Mördern und Vergewaltigern stellte. Was wäre die absehbare Folge? Irgendwann gäbe es keinen Platz mehr auf dieser Erde, wohin sich noch fliehen ließe ohne selbst betroffen zu werden. Entweder wird die Bande mittels entschlossener Gegen-Gewalt gestoppt oder sie beherrschte früher oder später den gesamten Planeten. Den Anforderungen des Kantschen kategorischen Imperativs entspricht nun eine unbedingte pazifistische Einstellung kaum.

Was beim Lesen von Christian Barons Beitrag verstört, ist seine zur Schau gestellte vermeintliche moralische Überlegenheit vor dem Hintergrund einer Situation, die — illusionslos gesehen — vollkommen hypothetischer Natur ist. Mag Deutschland auch in der Zukunft nie die Höhe der militärischen Ausgaben erreichen, zu der das Land innerhalb der NATO eigentlich verpflichtet wäre, mag die Bundesrepublik auch weitere Jahrzehnte den lukrativen Handel mit Diktaturen jeder Couleur pflegen und dies auch noch im Stile Steinmeiers zum Einsatz „für Frieden und Verständigung“ stilisieren, aber Deutschland darf sich dennoch sicher sein: Solange die Bundesrepublik Mitglied der NATO ist, kann sie auch die militärische Macht des großen amerikanischen Bruders weiter ausnutzen. Deutschlands Sicherheit wird von den USA garantiert; es bleibt eigentlich gar nichts zu befürchten.

Seien wir ehrlich: Vor wem könnte Deutschland Angst haben? Vor einer Einnahme von Konstanz durch die Schweizer Armee? Vor einer Annexion Schleswig-Hohlsteins durch Dänemark? Aktuell gibt es auf dem Europäischen Kontinent nur ein einziges Land, dessen Propagandisten Deutschland schon seit Jahren mal mit der Besatzung und mit Massenvergewaltigungen, mal mit atomarer Vernichtung bedrohen, dessen Politiker von der Schaffung eines „entnazifizierten Freiheitsraums von Lissabon bis Wladiwostok“ oder sonstigen Verlockendem träumen. Das Land heißt Russland und die Bundesrepublik sollte eigentlich glücklich darüber sein, dass — einer vor kurzem noch gängigen Metapher zum Trotze — Russland eben an keiner Grenze „Nachbar“ von Deutschland ist.

Seien wir auch ehrlich genug, um zu gestehen, dass der Angstmalerei mancher deutscher Pazifisten zum Trotze Russland schlicht und einfach nicht in der Lage wäre, ein Mitglied der NATO konventionell anzugreifen. Wer es seit sechs Monaten nicht schafft, durch Bachmut vorzustoßen, schafft es auch nicht bis Berlin.

Was Christian Baron in seinem Beitrag treibt, ist eine arrogante, realitätsferne Annahme aus einer hoch privilegierten Position heraus. Was passiert tatsächlich, wenn dein Land durch eine genozidal motivierte Bande überfallen wird?

Nach mehreren vergeblichen Versuchen verstehst du etwa, dass du deine Mutter nicht zur Ausreise aus Kyjiw bewegen kannst. Dein Onkel lebt im Dorf Horenka, ganz in der Nähe von Irpin und Butscha und es dauert eine Ewigkeit, bis du ihn überredest, sein Haus zu verlassen. Eine Freundin von dir, die zufälligerweise auch eine attraktive junge Frau ist, versteckt sich in einem Keller in Worsel, auch eine Ortschaft nördlich von Kyjiw, die seit Wochen von Russen besetzt ist. Das erfährst du gleichzeitig mit den Geschichten über abscheulichste Vergewaltigungen, die von russischen Soldaten begangen worden sind. Ein Trainer aus deinem Boxclub harrt währenddessen mit seiner Familie im Dorf Nemyschajewo aus, das sogar viel nördlicher als Butscha liegt, tief im besetzten Gebiet. Dabei weißt du bereits, dass sportlich aussehende junge Männer den Russen besonders verdächtigt vorkommen — sie werden entführt, gefoltert oder kommen überhaupt nicht mehr zurück.

Was will man in so einer Situation? Nicht nur ich, sondern viele — wirklich sehr viele — wollten in dieser Situation den ukrainischen Streitkräften beitreten, um die mordende Bande zu stoppen und wieder aus dem Lande zu vertreiben. Aus einer realitätsfernen, privilegierten Position heraus mag das unverständlich bleiben, gar ethisch bedenklich anmuten, geschenkt. Zu bedenken wäre dennoch, ob in einer nicht-fiktiven Situation die Flucht überhaupt eine universelle Lösung sein könnte. Es gibt in praxi viele, die entweder nicht fliehen wollen oder können. Selbst in Bachmut sind heute noch ein paar tausend Menschen ansässig. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein und es ließe sich denken, in Deutschland wäre es ganz anders. Das wissen wir aber nicht. Dass es in der Bundesrepublik keine Mütter gäbe, die sich zur Flucht in keiner Weise bereit fänden, steht jedenfalls nicht fest.

Absurde Unterstellungen, schreiende Unkenntnisse über die Situation in der Ukraine oder gar unreflektierte direkte Übernahmen von Ideologemen aus der russischen Propaganda sind Charakteristika der meisten sogenannten „pazifistischen“ Beiträge aus Deutschland.

So behauptet Christian Baron etwa, dass durch die Erklärung der Generalmobilmachung der ukrainische Präsident „einen großen Teil der Bevölkerung gewaltsam für seine Zwecke instrumentalisiert“. Was sind das für finstere Zwecke? Es handelt sich doch um denselben Präsidenten, der mit dem Versprechen eines auf diplomatischem Wege zu erreichenden Friedens gewählt worden war, der mehrere Rüstungsprogramme eingestellt hatte und noch wenige Wochen vor der zweiten Invasion die Warnungen westlicher Geheimdienste als Panikmache zurückgewiesen hat. Und wozu „instrumentalisiert“ er angeblich „einen großen Teil der Bevölkerung“? Ist das Wort „instrumentalisieren“ tatsächlich ein passender Begriff, wenn es um die Verteidigung ebendieser Bevölkerung vor einem genozidal geführten Angriffskrieg geht? Selensksij ist der frei gewählte politische Repräsentant des angegriffenen Volkes und es ist nicht so, dass er demselben etwas weltfremdes aufzwingen würde. Alle in der Ukraine durchgeführten Umfragen stimmen darin überein, dass eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine als eine Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden mit Russland ansieht.

Die bisherigen Erfahrungen lehren auch, dass das Regime von Putin mit territorialen Zugeständnissen weder zu befriedigen noch zu „befrieden“ ist. Bereits am Vorabend der zweiten russischen Invasion belegten die Umfragen, dass die überwiegende Mehrheit von Ukrainerinnen und Ukrainern bereit war, ihr Land auch mit Waffen zu verteidigen. Lagen meine Landsleute vor dem 24. Februar 2022 tatsächlich falsch, was die Einschätzung der notwendigen Mitteln zur Abwehr des bevorstehenden russischen Angriffs anging? War die Angst vor möglichen Konsequenzen dieses Angriffs absolut grundlos?

Der Beitrag von Christian Baron suggeriert den Eindruck, die Mehrheit der Ukrainer müsse vor der Mobilmachung fliehen wollen und sei kaum motiviert, den Streitkräften beizutreten. Das ist einfach unzutreffend. Natürlich gab es auch Pannen bei der Mobilmachung, zum Beispiel wurden kaum vorbereitete und hektisch aufgestellte Einheiten an die Front geschickt, während gleichzeitig viele kampferprobte Veteranen Monate darauf warten mussten, um in die Armee wieder aufgenommen zu werden, denn — wie bereits erwähnt — wirklich vorbereitet auf den russischen Großangriff war die Ukraine eben nicht.

Natürlich gibt es auch Männer, die überhaupt nicht in die Armee wollen und vor dem Krieg lieber ins Ausland fliehen würden. Doch selbst die überwiegende Mehrheit der Frauen, die ganz legal ausreisen dürften, sind in der Ukraine geblieben. Trotz gesetzlicher Bestimmungen ist der Dienst in den ukrainischen Streitkräften de facto freiwillig, denn wer nicht beitreten will, schafft es normalerweise dem Kriegsdienst zu entkommen. Die Flucht ins Ausland ist nicht einmal eine notwendige Bedingung dafür.

Weit schwieriger ist es im Gegenteil den Streitkräften beizutreten. Wer es nicht in den ersten Tagen nach dem 24. Februar 2022 geschafft hat, der hatte leider Pech. Das Problem der ukrainischen Armee ist nicht der Mangel an Freiwilligen, sondern der Mangel an Waffen, mit welchen der Aggressor aus dem Lande verjagt werden könnte. Die westlichen Waffen sind nun den sowjetischen bzw. russischen Entsprechungen ungefähr so überlegen wie ein Mercedes einem Trabant. Bereits damit, was die Ukrainer dank westlicher Unterstützung bekommen hatten, waren sie imstande fast die Hälfte der nach dem 24. Februar besetzten Gebiete zu befreien. Von den westlichen Panzern konnten die Ukrainer aber bis vor kurzem nur träumen, Kampfflugzeuge stehen immer nocht nicht zur Debatte. Christian Baron argumentiert aber so wie die amerikanischen Isolationisten Anfang der 1940er Jahre: Waffenlieferungen würden nur den Krieg „in die Länge ziehen“.

Eine weitere Unterstellung von Baron besagt, dass auf der ukrainischen Seite an der Front keine Menschen aus höheren Schichten der ukrainischen Gesellschaft vertreten seien. Aus dem Einzelfall, dass der 20jährige Sohn von Andrij Melnyk, dem ehemaligen ukrainischen Botschafter, immer noch in Berlin studiert, wo er einige Jahre mit der Familie gelebt hat, zieht Christian Baron den voreiligen Schluss: „Es ist auch in Osteuropa der ‚Pöbel‘, der nach Meinung der Mächtigen die Freiheit verteidigen soll. Fragt sich nur: wessen Freiheit?

- Lieber Christian, möchte man antworten, in der Ukraine versteht selbst der „Pöbel“ gut, dass es besser ist, in einem freien Land zu leben als unter Besatzung durch eine faschistische Diktatur. Die Freiheit, die in der Ukraine gegen Russland verteidigt wird, bezieht sich schließlich auf ganz basale Bedürfnisse: Nicht wahllos ermordet, nicht gefoltert, nicht vergewaltigt zu werden.

Ist es so schwierig nachzuvollziehen, dass die Mehrheit der Ukrainer und Ukrainerinnen hoch motiviert ist, eben diese Freiheit zu verteidigen? Und ja: In der ukrainischen Armee gibt es neben Lastkraftfahrern oder Bauarbeitern auch genügend Schriftsteller und Philosophen, Lehrerinnen und Tänzerinnen, DJs, Regisseure, Softwareentwicklerinnen. Dazu kommt noch eine Menge von Unternehmern und sonstigen „betuchten“ Menschen.

Was ich am wenigsten nachvollziehen kann: Gesetzt es ginge Christian Baron tatsächlich um ein pazifistisches Engagement, wieso stehen dann im Zentrum seiner Kritik gerade die ukrainischen Einberufungsmaßnahmen? Warum arbeitet sich Christian Baron nicht an Russland ab? Es sind schließlich russische Soldaten, die in die Ukraine einmarschiert sind und dort Kriegsverbrechen begehen, nicht umgekehrt. Spielt der Unterschied zwischen dem Aggressor und demjenigen, der nicht wehrlos abgeschlachtet werden will, in den Augen deutscher Pazifisten tatsächlich keine Rolle?

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