Antwort zu Peters Nowak Beitrag „Keine Boni für Nationalisten“

Ukraine, Linke Antwort zu Peters Nowak Beitrag "Keine Boni für Nationalisten"

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Lieber Peter, schön von Dir wieder zu hören, auch wenn ich mir sehr wünschte, dass die Umstände ein bisschen anders wären. Stimmt, es gibt ein ganz kleines Stück gemeinsamer Erinnerungen, das uns verbindet. Und wenn es sich hier nicht um Deine Erinnerungen handelte, hätte ich Deinen Beitrag wohl ignoriert. Ich meine, was soll das? „Tkachenko ist Nationalist, Nationalist, Nationalist“, - naja. Ich habe abgesehen davon auch schon schlimmeres gehört. Seitdem ich der “linken Umma” nicht mehr angehöre, treffen mich die Absurditäten aus dieser Ecke nicht mehr wirklich. Stellen wir uns einmal eine ganz hypothetische Situation vor, wo alle radikalen Zusammenhänge sich träfen und mich in einstimmigem Konsens zum „Nationalist“ erklärten, dann sei’s drum. Da kann ich nur Achseln zucken. Meine Betrachtung über die radikale Linke ist eher äußerlich-deskriptiv, Gott sei dank muss ich an keinen innerlich-normativen Debatten teilnehmen, was nun genau „nationalistisch“, „progressiv“ oder „links“ ist.

Aber zurück zum Thema Erinnerungen. Es ist manchmal wirklich seltsam, woran wir uns erinnern oder was wir vergessen. Zum Beispiel: Es gibt eine ganz tolle Freundin von mir aus München. Die ist weder Ukrainerin noch Deutsche, und sie schafft es, immer noch links zu sein. Und das meine ich ohne Ironie: Sie schafft es tatsächlich, ihre politische Ansichten zu bewahren und dabei den ganzen Dreck auszuhalten, den die germanische Linke so von sich gibt. Sie war immer schon stark, so etwas wie sie hätte ich jetzt einfach nicht mehr ertragen können. Aber woran sie sich erinnert: 2014 gingen wir mit ihr auf pro-ukrainische Demos in München und wurden dabei von einer angesehenen - der wirklich allertollsten! - antifaschistischen Recherchegruppe fotografiert. Unsere Lichtbilder wurden dann an unsere linke Freunde geschickt. Als Beleg von was? Das kann vielleicht das A.I.D.A erklären. Jedenfalls habe ich es einfach vergessen und die gute Freundin von mir brauchte ein bisschen Zeit, um mich daran zu erinnern. Es ging um eine Demo in München, just ein oder zwei Tage, nachdem die geheimnisvollen „grüne Männchen“ die ukrainische Krim unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es war reiner Zufall, dass diese gute Freundin von mir und ich zu diesem Anlass eine Demonstration am Odeonsplatz angemeldet hatten. Zu der Demo kamen überwiegend Ukrainer, aber auch Russen, die eher liberal waren. An die linken Zusammenhänge hatten wir auch Einladungen geschickt, doch es kam keiner. Außer einem Ukrainer und einer Frau, die weder Ukrainisch noch Deutsch ist. Genauer gesagt, die linken Germanen tauchten doch auf - in der Gestalt einer Antifa-Recherchegruppe, um eben mich und eine Linke zu fotografieren, die gar nicht so richtig Deutsch ist.

Nach der Veröffentlichung meines letzten Beitrags in der Jungle World wurde ich an eine weitere Sache erinnert, nämlich an die Versuche, meine E-Mail Adresse zu knacken. Das war jetzt zwar nicht so massiv wie nach meinen Beiträgen damals bei linksunten, wo es um die Unterstützung von russischen Faschisten im Donbas durch einige radikale Linke aus der Bundesrepublik gegangen war. So ein lauwarmer Versuch eines „digitalen Antifaschismus“ war das jetzt, nichts Ernsthaftes. Lieber Peter, stell Dir auch das Folgende vor: Diesmal habe ich sogar einmal keine einzige Morddrohung erhalten. Einfach ein unverdienter Luxus!

Was ich aber nie vergessen werde, sind die Bilder von verstümmelten Gesichtern ukrainischer Soldaten im Jahr 2015. Gepostet wurden diese durch die neonazistische Gruppe „Russitsch“ aus Sankt-Petersburg, welche von dem Sadisten Alexej Miltschakow angeführt wurde. Zu der Zeit, als diese Gruppe ihre abscheulichsten Verbrechen verübte, gehörte sie zur Brigade „Prizrak“ (einer russisch-nationalistischen in der Ostukraine aktiven Freiwilligeneinheit). „Russitsch“ war nicht die einzige rechtsextreme Gruppierung aus Russland, die bei „Prizrak“ dabei war, die Brigade wurde zu jener Zeit zu einem wahren Hort für solche Banden. Gleichzeitig galt diese Brigade für viele deutsche radikale Linke als „antifaschistisch“ und wurde mit Spenden unterstützt.

Peter, was ich brauche ist kein Mitleid sondern Gerechtigkeit. Ich will, dass geklärt wird, zu welchen Zwecken beispielsweise die „Ukraine-Spenden“ der Roten Hilfe verwendet wurden und dass das ggf. strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Ich will, dass jeder kommunistische Idiot mit einem deutschen Pass, der in jener „antifaschistischen Brigade“ gedient hat, vor Gericht kommt. Ich glaube zwar nicht, dass die Linke jemals imstande sein wird, diese Arbeit selber zu machen, aber gerne lasse ich mich überraschen, Peter. Wie wäre es denn mit einer sorgfältigen journalistischen Recherche, von mir aus, auch im Namen der Rettung von Linken? Was übrigens das A.I.D.A. angeht, so wäre es statt einer Entschuldigung bei mir um vielfaches souveräner, die antisemitischen Mörder und deren Hilfswillige aus der Münchner „Szene“ der 1970er ausfindig zu machen. Oder macht man keine Recherchen über die Ermordung von sieben Holocaust-Überlebenden, sobald man versteht, dass die Spuren in das eigene Milieu führen?

Aber kehren wir zu unseren Erinnerungen zurück. Du erinnerst mich etwa daran, dass Du mir damals Kontakte zu Jungle World vermittelt hattest. Ja, das stimmt! Es gibt natürlich einige „Kleinigkeiten“, an die ich mich nicht mehr erinnere. Die sind aber nicht so wichtig, genauso wie weitere „Kleinigkeiten“, was Deine Argumentation und Unterstellungen angeht. Selbst die Qualität Deiner Sprache verrät, dass Dein Text von niemandem gegengelesen und korrigiert wurde (Du hast ihn nicht mal einer Autokorrektur unterzogen, Peter!). Ich erzähle kurz von meinen eigenen Erinnerungen an jene Veranstaltung. Damals war es bereits zwei Jahre her, dass ich mich als Historiker wirklich intensiv mit der Geschichte der Ukraine beschäftigt hatte. 1989-2008 war die von mir ausgewählte Periode, aber natürlich hatte ich viel tiefer graben müssen. Dabei stützte ich mich auf nichts anderes als wissenschaftliche Literatur zum Thema. Ich glaubte zumindest einiges verstanden zu haben. Ich konnte, dachte ich damals bei der Veranstaltung, einiges erklären. Am Ende des Vortrags, bei dem Fragen-aus-dem-Publikum-Teil, erhebt sich ein linker Germane um mich und die Anwesenden über die „Nazis auf dem Maidan“ zu belehren. Das warst Du, Peter. Ich bin übrigens jetzt bereit zu wetten, dass Du acht Jahre nach dieser Veranstaltung immer noch keinen Satz auf Ukrainisch ohne Google-Übersetzer lesen kannst. Trotzdem weißt Du über die Ukraine alles viel besser. Dein Verhalten damals, dein Artikel, welchen Du gleich nach der Veranstaltung geschrieben hast, war für mich nur ein weiteres Zeugnis, dass es sich um festgefahrene Muster handelt, die von Seite derjenigen, welche sie bedienen, keiner Korrektur bedürfen. Dein Artikel handelte damals von einem „antisemitischen Mob auf dem Maidan“, von „national-befreiten Zonen“, die es dort angeblich gab. Dein jetziger Beitrag zeugt nur, dass Du in den letzten acht Jahren kaum weiter gekommen ist. Du sagst auch jetzt nämlich, dass der Maidan durch „führende deutsche Politikerin*en […] angefeuert“ wurde. Nach wie vor verurteilst Du den deutschen Imperialismus, bist aber auf der anderen Seite nicht imstande, das “Menschenmaterial dort im Osten” als selbständige politische Subjekte anzuerkennen. Auch die gebetsmüllartige Verurteilung von Antisemitismus wirkt seltsam, wenn diese mit wilden Verschwörungstheorien gepaart ist.

Aber glaub mir Peter, das alles hätte ich ruhig ignorieren können. Der entscheidende Auslöser für meine Antwort an Dich ist die folgende Erinnerung von Dir: „Tkachenko hat mir erzählt, dass seine Angehörigen sich in dem nationalistischen Milieu Münchens bewegten“. Lieber Peter, es mag zwar sein, dass ich vieles davon vergessen habe, was ich Dir erzählt habe. Es ist gut möglich, dass Du mehr von unserer Begegnung in Deiner Erinnerung behalten hast als ich. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass ich Dir gegenüber jemals das gesagt habe, was Du hier behauptest. Wieso sollte ich denn eine Geschichte erfinden, die eine krasse Lüge ist und die zu einem Menschen erzählen, den ich damals überhaupt zum ersten Mal sah? Mit erst 23 kam ich nach München und zwar ganz alleine. Von meinen ganzen Angehörigen hat mich während meines elfjährigen Aufenthalts dort nur mein älterer Bruder und meine Schwester ein paar mal besucht und wir hatten wichtigeres zu tun als uns im „nationalistischen Milieu“ zu bewegen. Mein Vater und meine jüngere Schwester sind erst vor drei Monaten nach Deutschland gekommen, und das ist nicht Bandera, sondern Putin zu verdanken. Meine Mutter hatte niemals deutschen Boden betreten. Von meinen Großeltern war in Deutschland nur mein Großvater väterlicherseits, und ich erzähle Dir gleich mehr, in welcher Rolle.

Ich will nicht sagen, dass Du bewusst gelogen hast. Es handelt sich bestimmt um eine eingebildete Erinnerung, etwas zutiefst Phantasmatisches. In dieser Hinsicht bist Du auch keine Ausnahme. Seit 2014 ist es nämlich immer wieder vorgekommen, dass mancher Linke unbedingt wissen wollte, ob meine Eltern nicht zufälligerweise aus der Westukraine stammten, oder ob ich nicht vielleicht „jüdische Wurzel“ hätte (was das letztere anbetrifft, so scheinen einige immer noch davon fest überzeugt zu sein). In den Kommentaren unter meinen Artikel bei linksunten war der Zusammenhang zwischen meinem damaligen Wohnsitz und meiner ethnischen Herkunft selbstredend: „Aha, der Faschoversteher Kyrylo ist aus München, alles klar“. So ähnlich, und sogar noch drastischer äußerten sich in der Tat viele links-germanische Kommentatoren.

Ich erzähle Dir gerne von meiner Familie. Bei der mütterlichen Seite handelt es sich um eine Bauernfamilie aus der Region Tschernihiw. Das ist im Norden des Landes, auf der linken Uferseite von Dnipro. Als Deutschland die Sowjetunion überfiel, war meine Großmutter Olha zwölf, ihr künftiger Ehemann neun Jahre alt. 1932-1933 hat meine Großmutter als Kleinkind und mein Großvater als Baby den Holodomor überlebt. Wie Du vielleicht weißt, handelte es sich um einen durch die Kommunisten organisierten Hunger mit 3,9 Millionen Todesopfern (das ist die korrekteste, durch die internationale Forschung anerkannte Zahl). 1941-1944 überlebten Olha und Mykhailo nur mit einer Menge Glück. Ich übertreibe nicht: In der Region waren nämlich Partisanen aktiv, und die Deutschen haben dort wortwörtlich hunderte Dörfer niedergebrannt. Lies mal etwas über das Städtchen Korjukiwka, Peter. Es ist in der Region von Tschernihiw, dort haben Deutsche in wenigen Tagen ungefähr so viele Zivilisten massakriert wie während aller Aktionen gegen Partisanen in Frankreich zusammen (was die Zahl der Opfer angeht, so entspricht Korjukiwka etwa dem Zwölffachen von Oradur-sur-Glane). Nach dem Krieg kam noch ein künstlicher, von Kommunisten organisierter Hunger. Während die UdSSR ein paar Millionen Tonnen von Getreide exportierte, starben in der Ukraine rund eine Million Menschen an Hunger. Wichtig ist auch der Kontext: Nach dem Krieg spielte Stalin mit dem Gedanken, die Ukrainer komplett zu deportieren. Was für ein Glück, Peter, dass die Zahl der Ukrainer deutlich höher ist, als, sagen wir mal, die der Qirimli oder Tschetschenern. Was für ein Glück ist es des Weiteren, dass das von uns bewohnte Gebiet dermaßen umfangreich ist. Solche Aktionen à la Stalin oder Putin lassen sich alleine aus diesen Gründen schwer ausführen. Nach dem Hunger war die Familie meiner Großmutter besonders stolz darauf, kein einziges Kind verloren zu haben. Stell Dir vor, Peter, was den Stolz so einer ukrainischen Bauernfamilie noch damals ausmachte, als der Große Krieg eigentlich vorbei war. Bei Mykhailo war es übrigens anders. Nicht jede Familie konnte sich halt mit so etwas brüsten.

Viel später, nach dem Lehramt-Studium ging mein Großvater Mykhailo mit seiner Großmutter Olha in die Westukraine. Es war eine bewusste Politik der Sowjets, die Westukraine durch die Übersiedlung von Ukrainern aus anderen Teilen der Republik zu sowjetisieren. Der in die ukrainische Familie hinein geborene Mykhajlo wurde Russischlehrer, später Schuldirektor. Olha arbeitete übrigens eine Zeit lang als Sekretärin in irgendeinem Ortsbüro von der KGB und tippte die Verhöre von denjenigen, welche des Nationalismus verdächtigt wurden. Das Lehrerleben bedeutete, viel umziehen zu müssen, Anfang der 1980er landete die Lehrerfamilie im Dorf Horenka, ganz in der Nähe von Kyjiw. Das Haus kannte ich gut, ich bin dort teilweise aufgewachsen. Von der Liebe meines Großvaters zur russischen Literatur zeugten die Brustbilder von Tolstoi und Puschkin, sowie unterschiedliche Abbildungen von Sergej Jesenin. Den letzteren liebte Mykhajlo besonders. Bevor das Haus im März 2022 von einer russischen Bombe getroffen wurde und ausbrannte, zierte seine – für meine Verhältnisse etwas kitschige - Außenwand das Relief vom „großen russischen Dichter“ Jesenin. Neben Familienfotos sind im Feuer auch einige Manuskripte für immer verschwunden, diejenigen der Prosa meines Großvaters und von Gedichten meines Onkels – alles auf Russisch. Das einzige Jesenin-Museum in der Ukraine wurde übrigens vor kurzem von einer russischen Bombe ebenfalls vernichtet.

Das sind meine Wurzeln von der mütterlichen Seite. Vielleicht kommt etwas ganz Schlimmes von der Seite meines in Kyjiw geborenen Vaters? Mein Großvater Josyp entstammt ebenfalls einer ukrainischen Bauernfamilie aus der Region Tschernihiw. Was seinen sozialen Aufstieg angeht, so brachte er es sogar noch weiter als Mykhajlo. Zumindest bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Guter Schulabschluss, Studium an einer Hochschule, Umsiedlung in eine Großstadt und, nicht zuletzt, Wechsel ins Russische — das war ein klassisches Schema des sozialen Aufstiegs für Millionen begabte und ehrgeizige Ukrainer. Am Ende wollte Josyp auch nichts mehr mit seiner bäuerlichen Verwandtschaft zu tun haben und es kommt vielleicht nicht von ungefähr, dass seine Frau eine ethnische Russin aus Russland war. Über sie erzähle ich gleich mehr, aber ich muss auch über das abrupte Ende der Karriere meines Großvaters sagen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war er ein sowjetischer Offizier, der trotz seines relativ jungen Alters für die Planung der Befestigungen von Kyjiw mitverantwortlich war. Die Stadt wurde, wie Du weiß, eingekreist und fiel. Unabhängig davon, wie gut oder schlecht die Befestigungen waren, hatte es nichts mit deren Qualität zu tun, sondern in erster Linie mit strategischen Fehlern der Militärführung in Moskau. Wie hunderte tausende weitere sowjetische Soldaten und Offiziere rund um Kyjiw war Josyp in deutsche Gefangenschaft geraten. Dennoch gelang es ihm zu überleben. Mehr noch, es ist ihm sogar etwas kaum vorstellbares nach seiner Befreiung gelungen. Anstatt als ein „Verräter“ nun in ein sowjetisches Lager geschickt zu werden, konnte er sich gleich der Roten Armee anschließen und erlebte das Ende des Krieges in Deutschland. Mit seiner Karriere war es auf jeden Fall vorbei, denn wer in deutscher Gefangenschaft gewesen war, blieb für den Sowjetischen Staat für immer verdächtigt.

Ob es sich im Fall meines Großvaters um einen Helden handelte, auf den ich unbedingt stolz sein muss? Das weiß ich nicht, Peter, um ehrlich zu sein. Die deutsche Gefangenschaft zu überleben, das war nämlich nicht immer eine saubere Geschichte. Ich kann nur hoffen, dass er kein Essen von einem sterbenden Kameraden klauen musste und nicht mit den Deutschen kollaborierte. Es wäre auch gut zu wissen, dass er keine Zivilisten in Deutschland erschoss, keine Frau vergewaltigte. Aber wenn es es anders sein sollte, bin ich nicht in der Position ihn dafür zu verurteilen. Denke bitte, Peter, auch daran, dass ich kein Einzelfall bin. Eine absolute Mehrheit der heutigen Ukrainer hat Vorfahren, die nicht nur Holodomor überlebten, sondern auch in der Roten Armee dienten. Etwas Heldenhaftes auf dem Letzteren aufzubauen wäre aber meiner Meinung nach verfehlt. Klar war der Hass gegen Deutsche sehr groß. Die einfachen Soldaten, Partisanen und Zivilisten sprachen übrigens einfach von „Deutschen“, der Begriff „Faschisten“ war dabei auch verwendet, aber viel seltener als in der sowjetischen Propaganda. In die Rote Armee geriet mal aber vor allem deswegen, weil es sich um einen totalen Krieg mit einer Massenmobilisierung handelte.

Als es eine Möglichkeit gab, im Jahr 1991 nämlich, stimmten über 90 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit der Ukraine. Auch auf der Krim und im Donbas war eine Mehrheit dafür. Wie es dazu kam, darüber schreibe ich in meinem Buch über die Bergarbeiterbewegung im Donbas in 1989-1993 sowie in weiteren Artikeln auf Ukrainisch, Deutsch und Englisch, welche ebenfalls auf einer mehr als zehnjährigen Forschung fußen. Im Kontext der vorliegenden Antwort an Dich sage ich nur eins: Die Ukrainer haben für die Unabhängigkeit deswegen gestimmt, weil … ach weißt Du, Peter, ganz einfach deswegen! Menschen wie Dir schulden wir nun wirklich keine Rechtfertigungen.

Der wichtigste Teil meiner Familiengeschichte ist derjenige von meiner russischen Großmutter Lidija. Du kannst Dir kaum vorstellen wie hübsch sie war, Peter! Denke an jemanden wie Marlene Dietrich oder irgendein anderer Filmstar aus den 1930ern, so ungefähr sah Lidija auf den Fotos in der Zeit vor dem Krieg aus. Und auch sehr glücklich, lebendig, fröhlich. Die Familienfotos verraten jedoch unmissverständlich, dass in der ersten Hälfte von 1940ern etwas unvorstellbares geschehen sein muss. Auf den Fotos danach sieht man einen anderen Menschen. Die Spuren einer Katastrophe erkennt man in Lidijas Augen unmissverständlich.

Erst als Erwachsener habe ich die Geschichte erfahren, die unsere Familie bis heute prägt. Nicht nur attraktiv war Lidija, sie konnte auch Macht über Männer ausüben. Vielleicht erklärt das auch warum sie, trotz adliger Herkunft, nach Leningrad ziehen und dort studieren konnte. Auf jeden Fall erklärt es ihre Rettung aus dem belagerten Leningrad. Als der Krieg ausbrach, lebte sie dort, war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Das kleinste davon war eigentlich ein Baby und starb in Lidijas Händen, während sie Gott darum bat, sein Leben möglichst schnell zu nehmen. Doch wohl das Schlimmste an Lidijas Geschichte war der Preis ihrer Rettung. Es ging um einen Liebhaber von ihr, einen hohen sowjetischen Offizier, der sie in das Flugzeug nehmen konnte, welches aus Leningrad flog. Es gab aber eine Bedingung dabei: Das zweite Kind konnte nicht mit. Lidija ließ ihre Tochter einfach im Kindergarten, ohne von ihr Abschied zu nehmen und stieg in das Flugzeug. Sobald es nach der Vertreibung der Deutschen möglich war, begab sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter. Diese hat zwar überlebt, aber befand sich ihr Leben lang im Zustand einer sehr schweren psychischen Krankheit.

Einige Jahre nach dem Krieg traf Lidija meinen Großvater Josyp und heiratete ihn. Mein Vater Oleksij ist das einzige Kind aus dieser Ehe. Es bedarf jahrelanger psychotherapeutischer Arbeit um nachzuvollziehen, dass die Erfahrungen meiner Großmutter sich bis auf unsere Generation auswirken. Das Trauma meiner Großmutter musste mein Vater im gewissen Sinne vererben. Er ist mit dem Wissen aufgewachsen, es sei seine Schuld, dass seine Geschwister nicht da sind. Natürlich ist diese Vorstellung absurd und irrational. Du verstehst doch, Peter, dass mein Vater erst nach dem Krieg geboren ist, nicht wahr? Und dennoch prägten die Erfahrungen meiner Großmutter das Leben meiner Generation immer noch tief. Zum Beispiel: Warum sind wir eine mehrköpfige Familie? Wegen des Fortpflanzungszwangs meines Vaters, welcher in der Leningrad-Geschichte meiner Großmutter wurzelt. So ist zumindest die therapeutische Erklärung. Und es geht nicht nur um meinen Vater. Wie gesagt, die Auswirkungen reichen bis in meine eigene Generation. Ich habe nicht das Recht über meine Geschwister zu sprechen, aber es reicht vielleicht, wenn ich erwähne, dass ich selbst schon mal in der Psychiatrie war.

Meine Großmutter starb, als ich noch sehr klein war, ich habe keine Erinnerungen von ihr. Und trotzdem liebe ich sie sehr. Sie tut mir wirklich leid und ich kann ihr nur verzeihen. Ich bin nämlich nicht in der Lage sie dafür zu verurteilen, dass sie überlebte — auch wenn zu so einem schweren Preis. Schwieriger ist für mich ihr Umgang mit meinem Vater, aber auch hier kann ich nicht der Richter sein.

Und weiß Du was, Peter? Ich verzeihe Dir, dass Du Deutsch bist. Daran ist ja nichts Schlimmes, meine ich, die Menschen Deiner Generation haben tatsächlich nichts mit den Verbrechen der Vorfahren zu tun. Ich kann nicht den Deutschen der ersten Hälfte der 1940er verzeihen, denn ich kann nicht im Namen meiner Großmutter verzeihen. Aber was mich und Dich angeht, so tue ich es nur gerne. Meine Vermutung ist nämlich, dass Du so einer Verzeihung — egal wie irrational und absurd diese sein mag — tatsächlich bedarfst. Warum fällst Du sonst in so eine mystische Denkweise in Deinem Text zurück? Schlimm ist das, was Du gerade machst, nicht Deine Herkunft. Deine Entlastungsstrategie, dessen kollateralen Schaden die Ukrainer tragen müssen, ist in meinen Augen offensichtlich. Du machst etwas grundsätzlich Falsches gerade in dem Augenblick, während Du Dich durch irgendwelche sinnlose ideologische Rituale von Deiner imaginierten Erbsünde zu befreien versuchst.

Sei verziehen für die Vergangenheit deines Volkes und mach bitte keine Dummheiten jetzt. Leb wohl, Peter!

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