Krasser Anstieg?

Freitag 26/2023 Dies ist ein Kommentar zum Interview von Elsa Koester mit Sonja Sorg zur LGBTQ-Thematik, eigentlich aber nur zu einem Punkt

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Das o.g. Interview hat mir als "Cis-Mann" durchaus neue Perspektiven auf dieses viel diskutierte Thema eröffnet und sich schon deshalb unbedingt zu lesen gelohnt. Als Wissenschaftler habe ich jedoch bei den darin angegebenen Zahlen zur Größe des "Betroffenenkreises" gestutzt. Die gleich am Anfang genannten ca. 5% für die "Babyboomer-Generation" entsprechen ungefähr den Schätzungen in der sexualwissenschaftlichen Fachliteratur aus Deutschland (Ost wie West) aus den 1970er/1980er Jahren für homosexuelle Menschen. (Trans-Menschen wurden damals meiner Erinnerung nach als extrem selten angesehen; den Begriff "nicht-binär" gab es, glaube ich, gar nicht.) Wenn nun unter den nach 1997 in Deutschland Geborenen 22% sich selber als homo- oder bisexuell, trans* oder nicht-binär betrachten, und wenn diese Zahl tatsächlich belastbar sein sollte, wäre das ein unglaublicher Anstieg, für den man meiner Meinung nach durchaus die Gründe versuchen sollte zu erkunden. Mir fallen zumindest drei mögliche Erklärungen ein, die sich im Übrigen gegenseitig nicht ausschließen. Zum einen wäre es denkbar, dass der Anteil immer schon so hoch war, aber die betroffenen Menschen sich jetzt erst dazu bekennen (können), vielleicht auch, weil ihnen ihr eigenes Fühlen jetzt stärker bewusst ist. Dann hätten aber extrem viele Leute in der Vergangenheit sehr darunter gelitten, und irgendwie scheint das doch der Alltagserfahrung zu widersprechen. Hätte man bei einem so hohen Anteil im Laufe eines Lebens nicht doch etwas öfter auf betroffene Menschen treffen müssen? Zum anderen könnte die Zugehörigkeit zum LGBTQ+-Kreis doch irgendwie en vogue sein (auch wenn z.B. Joanne K. Rowling für diese Annahme Prügel bezogen hat), und das kann ich mir zumindest vorstellen, sofern und solange es um Bisexualität geht. In beiden Fällen wäre der Anstieg aber eigentlich nicht real. Wenn er es aber doch sein sollte, und das wäre dann eine wissenschaftliche Herausforderung, müsste es ja irgendwelche Umweltfaktoren geben, die in der Generation der in den 90er Jahren oder danach Geborenen zu einer erhöhten Zahl von Menschen im "LGBTQ+ - Spektrum" geführt haben. Die sexuelle Orientierung oder gar eine Transidentität sucht man sich ja nicht aus. Und rein biologistisch-evolutionär betrachtet bringt sie keinen Vorteil. Es lassen sich dazu diverse aussichtsreiche Forschungsansätze denken, allerdings bin ich mir nicht sicher, wie die betroffene "Community" über sich selbst als Forschungsgegenstand denkt...

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