Durch Brunnen rennen

Die Kosmopolitin Für unsere Kolumnistin hat das Laufen durchs kalte Nass symbolischen Charakter
Ausgabe 26/2017
Klar, kalt, nass, verschwommen, herrlich, lebendig
Klar, kalt, nass, verschwommen, herrlich, lebendig

Foto: Westend61/Imago

Nach der Lesung springe ich in den Brunnen. Das ist, was man bei Kindern Übersprungshandlung nennt. Ich bin Schriftstellerin, also nennt man das bei mir wahrscheinlich „exzentrisch“. Ich nenne es gar nicht, ich trete aus der Buchhandlung und bin müde, weil es die sechste Veranstaltung diese Woche ist, und mir ist heiß, und direkt vor der Buchhandlung ist dieser Springbrunnen, durch den ich schon viermal gelaufen bin: dreimal mit Kindern. Einmal ohne. Wenn ich mit Kindern durch Brunnen renne, wenn wir auf der anderen Seite auftauchen, nasse Haare in den Augen, Kleidung klebend, das Lachen echt, dann leben wir den Moment, gegen Regeln, gegen Vorstellungen, gegen das Trockene eines Alltags. Als ich ohne Kinder durch den Brunnen rannte, so war das, um mir zu beweisen, dass ich das für immer bleiben kann: ein Kind. Das Leben sind wir selbst. Das Wasser an uns erzählt, was ich nicht in Worte fassen kann, kennt keine Pathetik, keinen Kitsch.

Ich trete aus der Buchhandlung, ausgelaugt. Rechts von mir ist meine Freundin, links meine Mutter, die selten meine Lesungen besucht. Vor uns der Springbrunnen, vor mir dieser Moment. Ich brauche nicht viele Worte. Meine Freundin nimmt mich an der Hand, die samtbezogenen Sneaker werfe ich gerade noch ab und lasse sie neben meiner Mutter stehen. Ich blicke nicht zu ihr, aber mich einmal um, ob die Zuhörer noch an der Buchhandlung stehen und mich beobachten werden. Dann zieht mich meine Freundin hinein. Klar, kalt, nass, verschwommen, herrlich, lebendig. Fraglos und jetzt. Als wir auf der anderen Seite auftauchen, klatscht ein älteres Paar, alle anderen, die da stehen, ein Eis schlecken, die Stadt in der Abendstimmung bewundern, blicken uns an, als seien wir verrückt. Das nehme ich als Kompliment.

Auf der anderen Seite sehe ich meine Mutter, sie hantiert mit ihrem Handy. Sie hat uns wohl fotografieren wollen. Sie hat ihre Tochter fotografieren wollen, wie sie nach einer Lesung durch einen Springbrunnen rennt. Wenn sie mich fotografieren will, versucht sie, mich zu verstehen. Ich weiß, das fällt ihr nicht immer leicht. Der Brunnen ist in dem Moment ein Symbol, ein kleiner Stein in einem großen Graben. Der Graben ist zwischen dem, was meine Mutter kennt, und dem, was ich aus Überzeugung geworden bin. Im Graben ist der Versuch zu verstehen.

Als meine Eltern, nicht mehr ganz jung, ihre Heimat verließen, so taten sie das für uns, die Kinder. Sie nannten es nicht so, aber sie brachten ein Opfer, eines, das der elterlichen Pflicht, der über allem stehenden Liebe entsprach. Sie taten es, sie taten alles, um ihren Kindern Sicherheit zu geben. Eines ihrer Kinder, ich nämlich, aber liebt das Leben erst dann, wenn es unsicher ist. Was ich spüre, wenn ich über Grenzen gehe, wenn Erwartungshaltungen keine Rolle spielen, und nur ein Gefühl wie Wahrheit zählt, was ich spüre, wenn der Springbrunnen sich über mich ergießt und Wasser sich mit Wimperntusche vermischt, und die Unsicherheit, weil ich nichts mehr sehe, das können meine Eltern nur erahnen, und ich glaube, die Ahnung macht ihnen Angst. Meine Mutter steht da, und ich stehe nass auf der anderen Seite. Du siehst aus wie ein Taucher in deinen nassen schwarzen Klamotten, sagt meine Freundin, aber ich höre nicht zu, ich versuche, meine Mutter herbeizuwinken. Sie bewegt sich nicht; vielleicht sieht sie mich nicht, und vielleicht, aber dieses zweite Vielleicht schiebe ich beiseite. Ich gehe auf meine Mutter zu, und ich lache. Ich hoffe, dass sie dieses Lachen versteht.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Null bis unendlich (Rowohlt 2015)

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