Der Portier am "Hotel Nacional"

Kuba Skizzen aus einer Übergangsgesellschaft

Wenn Yanis Leon Salazar aus seinem 35jährigen Leben erzählt, erscheint das wie eine Reise durch ungemein verschiedene Welten, in denen sich irgendwo die Grenzen aus Rationalem und Irrationalem nicht mehr aufdrängen, etwas Fremdes, Andersartiges als Grundgeschmack auf der Zunge bleibt. Welten, in denen auch die spirituelle Natur des Künstlers zu ihrem Recht findet. Wenn Yanis darüber spricht, dann erscheint das wie eine Reise in die Vergangenheit einer Gesellschaft, die einmal die Zukunft in ihren Händen glaubte und in Teilen dort immer noch glaubt.

Erinnert er sich der achtziger Jahren, gleicht das oft einer Wanderung zwischen Traum und Wirklichkeit. Irgendwo treffen sich die Welten des Spirituellen und des Sozialismus, irgendwo trennen sie sich auch. "Das mit dem Sozialismus ist hervorragend. Wenn es das war, was ich so kenne. Aber der Mensch im Sozialismus kann nicht einfach Mensch sein. Das ist sein Problem - er muss sozialistischer Mensch sein. Normal!"

Yanis wiegt seinen Kopf mit der enormen Haarpracht im lauen Nachtwind der Karibik. Er kommt nicht aus der Welt der Universitäten, der Rechenschieber und Versicherungsangestellten, er lebt nicht mit Aktienkursen, Schönheitsoperationen und Yellow-Press. Er kennt kaum die Dimensionen des Computers, einer universal sich ausbreitenden Konkurrenz, der sichtbaren Widersprüche zwischen den Geschlechtern.

Im Wort "normal" kreist um alles, was bedeutungsvoll erscheint

Yanis lebt in einem Dorf, dass Nuevo Mundo - "Neue Welt" - genannt wird und in der Provinz Granma liegt. Vor knapp 45 Jahren, im Dezember 1956, gingen hier Fidel Castro, Ernesto Guevara und 80 einigermaßen bewaffnete Männern ziemlich seekrank von Bord der Barkasse Granma und begannen ihren Marsch durch den Maquis der Sierra Maestra, der Anfang 1959 mit dem siegreichen Einzug in Havanna enden sollte. Die Provinz, die nach der Revolution den Namen des Bootes übernahm, ist derzeit mit Abstand die letzte in der sozialen Rangfolge der 14 Distrikte des Landes, wie eine Studie aus dem vergangenen Jahr ausweist. In dieser Abgeschiedenheit der Abgeschriebenen wird der Landstrich im Südosten Kubas wohl verbleiben, wird im weit entfernten Havanna nicht gegengesteuert.

Yanis pendelt in unregelmäßigem Takt zwischen zwei Welten - zwischen Nuevo Mundo, wo er in einer Holzhütte ohne Strom Skulpturen, Statuen und Wandschmuck schnitzt und wie ein Eremit lebt, und dem Malecón, der berühmten Uferstraße Havannas, wo er versucht, die Früchte seiner Arbeit auszustellen, sie vor allem an Touristen zu verkaufen. Bei dieser Gelegenheit wohnt er im Stadtteil Vedado bei der Großmutter im gewaltigen Edificio Foxa, einem noch vor der Revolution erbauten Hochhaus am Meer.

Wenn Yanis von den ersten Reisen in die Hauptstadt erzählt, ist von schroffen Sitten Havannas die Rede, von scharfen Gerüchen, vom Rausch greller Musik, von Wochenenden, an denen er die Lust spürte, den heute unerschwinglichen braunen Rum und aromatische Zigarren aus der Provinz Pinar del Rio zu kaufen. "Normal!". Gefeiert wurde im Nacional, dem größten und ehrwürdigsten Hotel direkt am Malecón. Heute käme Yanis dort vielleicht noch durch die Pendeltür, aber kaum mehr am Portier vorbei. Es sei denn, er wäre in Begleitung eines Touristen. "Normal!"

Yanis nennt das "die unangenehme Seite der Stadt" und spricht im gleichen Atemzug davon, dass er wegen des Besitzes eines kleinen Stummels von einem Joint acht Monate im Gefängnis gesessen hat. Als Künstler, der sich selbst überlassen bleibe, sei ihm das egal. Wäre er allerdings bei einem Touristikunternehmen beschäftigt, hätte er dort als vorbestrafter und schwarzer Kubaner kaum mehr vorsprechen müssen.

Das Wort "normal" markiert, was fremd oder schwierig ist

Auf einer Dachterrasse über Havanna schaukelt der 21jährige Alexander Jimenez Perez in einem rostigen Stuhl gelassen hin und her, er kommt aus dem Provinzstädtchen Las Tunas, studiert an der Universität in der Hauptstadt Havanna und ist Jungkommunist an prominenter Stelle. Seit seinem 12. Lebensjahr wohnt er in Internaten. Zuerst war es die Unterkunft des Sportgymnasiums, seit drei Jahren ist es in Bahía (Ost-Havanna) das Studentenheim der Universität. Das kubanische Bildungssystem gewährt jedem, der zur Hochschule zugelassen wurde und von außerhalb kommt, einen kostenfreien Wohnplatz, Essen und Studienmaterial.

Im Wohnheim leben jeweils acht Kubaner oder Kubanerinnen in einem Appartement mit zwei Schlafräumen - die Abschluss-Semester haben Anspruch auf mehr. In der Mensa gibt es Erbsen oder Bohnen mit Reis, zuweilen mit Huhn. Das alles reicht zum Überleben, genügt für die tägliche Versorgung - größere Ausgaben müssen von Eltern und Verwandten getragen werden.

Alexanders vorsichtige Kritik an seiner Lebenswelt reflektiert die erkennbaren Widersprüche des heutigen kubanischen Systems, die sozialen Ungleichheiten, die mit einer partiellen Liberalisierung des Wirtschaftslebens in der periodo especial - dem Rettungsanker der nationalen Ökonomie - verbunden sind und den gesellschaftlichen Konsens - eine der wesentlichen Errungenschaften der Revolution - erodieren lassen. Alexanders Vater, der als Schweißer eines Montageunternehmens jahrelang ständig über die ganze Insel reiste und dessen Refugium sechs Tage im Monat die Baustelle eines Holzhauses in Las Tunas war, ließ kürzlich seine schweren Arbeitsschuhe verkaufen: "Damit ich wieder über mehr Geld zum Leben verfüge ...". Zuletzt, so Alexander, habe der Vater monatelang für eine Erdölfirma gearbeitet, zusammen mit kanadischen Spezialisten, die im Monat soviel verdienten wie der Vater im ganzen Jahr.

Als Yanis diese Geschichte hört, grinst er in den leeren Raum, der manchmal zwischen unseren Gesprächen entsteht: "Ich werde morgen ganz ruhig aufstehen, wenn ich Lust habe. Ganz ruhig." Den Einwand, dass er doch arbeiten müsse, schluckt halb die Meeresbrise, halb wischt Yanis sie selbst vom Tisch. "In Kuba funktioniert das so. Wenn du spät aufgestanden bist, kommst du eben später zur Arbeit. Es ist völlig egal, ob du in einer Fabrik, einer Werkstatt oder sonst wo beschäftigt bist. Du sagst dem Chef, es sei spät geworden letzte Nacht, und der sagt: ›Gut, hilf mir mal hier, hilf mal mit dem‹ - das geht dann schon. Normal!" - In der Firma, für die Alexanders Vater arbeitete, "geht" das längst nicht mehr. Maximal zwei ärztliche Atteste können eingereicht werden, sonst steht der Job auf der Kippe. In den mit ausländischem Kapital finanzierten Unternehmen, die nach der Verfassungsreform von 1992 mittlerweile ein beachtliches Terrain in der vormals ausschließlich staatlichen Ökonomie Kubas besetzen, herrscht ein stringentes Arbeitsregime.

Im nunmehr elften Jahr der periodo especial, die mit dem Verschwinden des Wirtschaftspartners Sowjetunion 1991 notwendig wurde, steht Kuba mit seiner gemischten Wirtschaft offenkundig vor einer Zerreißprobe. Ein verändertes Konsumverhalten, eine robuste Arbeitsmoral, eine andere Reflexion der Position des Individuums sind unübersehbar. In vielen Fällen stellt sich die Einstellung zur Arbeit, die zuvor maßgeblich auf das Kollektiv fixiert war, als existenzielle Frage dar. Die soziale Orientierung zielt auf einfache Dienstleistungsjobs in der Tourismusbranche. Taxifahrer, Kellner oder Zimmermädchen, Privatvermieter, Prostituierte oder ambulante Händler verdienen an manchem Tag oft mehr als ein Universitätsprofessor im ganzen Monat - vom Währungsgefälle zwischen Dollar und Peso ganz zu schweigen. Normal?

Manchmal endet das "normal" auch bei einem "loco" - verrückt

Die Sozialplaner in Havanna gehen indes weiter von den Paradigmen der Vergesellschaftung des Individuums aus. Der pluralistische Diskurs, die Autonomie des Individuums gelten bis in die Universitäten hinein als fragwürdig. Das für Kuba typische Repräsentationssystem, das die zu Repräsentierenden schon im Voraus definiert, kennt beispielsweise nach wie vor keine Vertretung für die farbige Bevölkerungsgruppe. Homosexuellen werden eigene Verbände verwehrt. Prostitution wird zwar toleriert, ist aber offiziell weiterhin verboten, so dass die Betroffenen ihre sozialen Interessen nicht artikulieren können. Wer daran Kritik übt, gilt schnell als "konterrevolutionär".

So beschränkt sich für die jüngere Generation eine individuell erfahrbare Welt auf den Zugang zum Internet, den Zugriff auf westliche Kleidung, die Dynamik urbanen Lebens. Dabei weisen deutliche Anzeichen der sozialen Zerklüftung und der Diskriminierungen nach Hautfarbe, Geschlecht - teilweise auch Wohnort - auf die Gegenwart einer "Übergangsgesellschaft" und die Zukunft eines heterogenen Gemeinwesens. Es steht zu befürchten, dass sich der kubanische Sozialismus, der Prestige und Identität aus der Aufhebung sozialer Ungerechtigkeit und rassischer Erniedrigung gewann, unter der Oberfläche einer periodo especial selbst zu delegitimieren beginnt. Noch scheint die Transformation in einer Phase der Stagnation zu verharren, doch die Gesellschaft ist bis in ihre Fundamente hinein dabei, sich einer (post)-sozialistischen Realität zu versichern.

Yanis empfindet dies als wenig relevant und freut sich, dank seiner Arbeit ein einfaches Provinzleben genießen zu können. Alexander ist diese Gelassenheit fremd: "Vor kurzem ist das Haus meiner Mutter abgebrannt, aber nichts passierte. Ich musste hier in Havanna ständig mit den Behörden verhandeln, musste bitten und drängen und stieß auf Untätigkeit. Da kann nicht ›Normal‹ sein."

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