Mit dem Dorfblick sieht man besser

Ortstermin Essen, Reisen, Kleidung: Viele halten ihren Lebensstil für ökologischer, als er ist. Dass der Zorn auf die Grünen wächst, je näher die Wahl rückt, hat damit viel zu tun
Ausgabe 32/2021

Phänomenen kann man gut an ihren Rändern auf die Spur kommen. Sangerhausen, ein heißer Samstag vor den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Der Abstimmung, an der sich zeigt, wie groß die Chancen grüner Politik im Bund sind. Auffällig in den engen Gassen: hohe Bereitschaft, sich Orchideen in Erdgeschoss-Fenster zu stellen. Mittagssonne über dem leeren Marktplatz, in Abständen patrouillieren tiefergelegte Autos, aus offenen Fenstern fallen harte Bässe aufs Pflaster, hallen nach zwischen sanierten Fassaden. Tekke, sagt Maren Enke, zuckt mit den Schultern, wir sprachen gerade darüber: eine Art Hirntod-Sound, beliebt in der Gegend. Enke erzählt von nicht minder harten Drogen, toxischer Männlichkeit, davon, dass viele in ihrem Alter die CDU wählen. Eine unpolitische Geste sei das, Gewohnheit, Vertrauen, dass die Dinge weiterlaufen, sich nicht groß verändern. Also, fragt man dann, laufen sie gut?

Maren Enke, 20 Jahre alt, schüttelt den Kopf. In Sangerhausen aufgewachsen, Vater aus Schleswig-Holstein, Mutter aus der Stadt, vor ein paar Monaten hat sie sich zu den Grünen gesellt – sie ist eine der Jüngsten im Kreisverband. Wenn man im Ort Politik machen will, erzählt sie, ist der einfachste Weg der über die Junge Union.

Enke erzählt, dass sie nicht aus einer politischen Familie kommt, nur: Ihre Großmutter habe ihr Leben lang als Verkäuferin gearbeitet und nun eine kümmerliche Rente; als sie vier Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern, plötzlich stand die Mutter allein mit drei Kindern da. Ihr Zugang zur Politik sind soziale Fragen, der Umstand, dass ihre Mutter deutlich weniger Rente als der Vater bekomme, weil sie weniger Zeit für Arbeit hatte. Nach dem schweren Unfall des Vaters lernte sie die Versorgung chronisch Kranker als entwürdigende Mühsal kennen. Maren Enke ist nicht über Fridays for Future zu den Grünen gekommen, es geht ihr um Begriffe wie Gerechtigkeit und Gemeinschaft. Sie sagt, dass sie Verantwortung übernehmen will.

Ausgangspunkt für die Fahrt ins Mansfelder Land ist die These des Münchner Soziologen Armin Nassehi, eines der Vordenker des grünen Kapitalismus: Im Gegensatz zu Sozialdemokraten und Konservativen, die von der Komplexitätsfolge der Moderne überfordert seien und sich an Glaubenssätze der Industriegesellschaft klammerten, könnten die Grünen politische Bündnisse eingehen, die sich aus ihrem Konservatismus bei ökologischen Fragen speisen; ihre Vorstellungen von Gleichberechtigung machten sie für linke Milieus interessant, liberale Wähler*innen sprächen sie mit Bürgerrechtsfragen an. Damit seien sie für die technische, geisteswissenschaftliche bis hin zur juristischen Intelligenz attraktiv. Viele Verbindungen zu sozialen Bewegungen funktionierten weiter.

Nassehi notierte 2019 im Kursbuch, dass ein „grünes Konzept“ der Pluralisierung von Lebensentwürfen entspreche, das Selbstbewusstsein urbaner Mittelschichten spiegele, „die Romantisierung des Natürlichen und die Moralisierung des Eigenen“ bediene. Also auch eine „gewisse Modernitätskritik“. Als ihn Ulrich Schulte für sein Buch Die grüne Macht fragt, antwortet Nassehi: „Die Grünen haben von allen politischen Kräften die kürzesten Wege in die verschiedenen Funktionssysteme der Gesellschaft.“

In dieser Gesellschaft ist ein gewisser Widerspruch nicht zu übersehen: Bis zu 27 Prozent der Befragten erklärten in Frühjahrs-Umfragen, Grün wählen zu wollen. Auch wenn kein Supermarkt ohne Bio-Ecke auskommt, kein Billigmoden-Hersteller ohne Eco-Kollektion – solche Sympathien schweben seltsam entrückt über unserer Lebenspraxis.

Zwar stagniert die Tendenz, doch statistisch isst jede*r Deutsche 57,33 Kilogramm Fleisch pro Jahr – Produktionsverluste und Tierfutter eingerechnet, verbrauchen wir 84,48 Kilogramm. In Bayern, dem Land mit dem höchsten Fleischkonsum, hat ökologisches Schweinefleisch einen Marktanteil von 0,6 Prozent. Vor allem Umfragen zeichnen ein schizophrenes Bild: Dem Bundeslandwirtschaftsministerium antwortete die Hälfte der Befragten, beim Fleischkauf „häufig“ auf Bio-Qualität zu achten. Bio-Fleisch macht bundesweit kaum zwei Prozent des Marktes aus.

Das Selbstbild ist verrutscht

Der Online-Händler Zalando hat im Frühjahr eine Studie über seine Kund*innen veröffentlicht, Titel: „Attitude-Behavior Gap Report“. Die deutsche Modewirtschaft ist die umsatzstärkste Europas, neun Prozent der Befragten gaben in einer Studie an, auf faire und ökologische Produktion zu achten. Das Umweltbundesamt findet bei streng zertifizierten Bio-Textilien einen Marktanteil von 0,85 Prozent.

Oder die Zustimmung für erneuerbare Energien: liegt bei 80 Prozent. Höhere Kosten dafür wollen 40 Prozent entrichten – rund 26 Prozent der Haushalte beziehen Ökostrom. Der Deutschen Lieblingsbeschäftigung, Reisen: Fast ein Viertel aller Befragten gibt an, eine CO₂-Kompensation für Flüge zahlen zu wollen, Buchungsportale und Fluglinien stellen fest, dass ein Prozent es tatsächlich tut. Das Kraftfahrzeugbundesamt notierte 2020 mit 32 Prozent, wie auch in Vorjahren, als stärkste Klasse der Neuzulassungen: SUV und Geländewagen.

Vielleicht zeigt eine Zahl besonders gut, wie verrutscht das Selbstbild ist: Unsere tägliche Menge Fleisch liegt um 70 Prozent höher, als wir sie einschätzen. Gefühlt essen wir viel gesünder, leben viel grüner.

Grund genug, zu Maren Enke nach Sangerhausen zu fahren. Nach dem Abitur hat sie angefangen, in Leipzig Politikwissenschaften zu studieren, will aber im Mansfelder Land Politik machen. Viele verschwänden nach der Schulzeit, erzählt sie, machten Ausbildung oder Studium woanders, fänden Arbeit. Enke erzählt konzentriert, darauf bedacht, nicht zu scharf zu urteilen. Vielleicht wegen ihres Abiturs im Internat oder wegen des Studiums: Sie kennt den Vorwurf, abgehoben zu argumentieren. Auch ihr politisches Engagement: in Sangerhausen selten.

Die Stadt hat 14 verstreute Ortsteile, Enke hat schnell eine Liste der Dinge beisammen, die nicht funktionieren: öffentlicher Nahverkehr außerhalb der Kernstadt – ein dünnes Rinnsal. Ohne Mofa oder Auto sind viele aufgeschmissen. Infrastruktur und Kulturprogramm für Jugendliche – eher mau. Enke überblickt ihre Altersgruppe: ökologisches Bewusstsein, Klima-Initiativen – selten. Stadtpolitik erscheint ihr als geschlossener Prozess, bei dem mittut, wer schon immer dazugehört. Vielen Bekannten seien Wahlen gleichgültig, niemand wisse, was im Stadtrat besprochen wird, etliche grinsen, wenn AfD-Kandidaten sagen, Homosexuelle gehörten ins Gefängnis. Enke erzählt von Trinkspielen, normales Kommando dabei: „Ex oder Jude.“

Grüne Politik hat es schwer im Mansfelder Land: Bei Kommunalwahlen bekommt die Partei in der Region keine vier Prozent, so wenige Stimmen wie nirgends sonst. Pressesprecher des Landesverbandes in Magdeburg raten einem, andere Kreise zu besuchen. Maren Enke antwortet auf die Frage, ob es Greta Thunbergs „I want you to panic“ nicht bis Sangerhausen geschafft habe: Die Leute haben mehr Panik vor grüner Regierungsbeteiligung. Vor notwendigen Veränderungen.

Die Fallhöhe der Wahlen ist deutlich: Das Bundesverfassungsgericht ordnet Nachbesserungen beim Klimaschutzgesetz für Generationengerechtigkeit an; der Spiegel schreibt, „die Bedrohung“ des Klimawandels könne nicht mehr ignoriert werden, die Zeit sieht in der nächsten Bundestagswahl eine „Weichenstellung, wie sie die Republik seit ihren westdeutschen Anfangsjahren nicht mehr erlebt hat“. Wissenschaftler*innen von der Leopoldina, also der Instanz, die die Regierung berät, stellten Anfang Juni ein Positionspapier zur Klimaneutralität vor: „Für die Transformation hin zur Klimaneutralität ist die nächste Legislaturperiode entscheidend.“

Wenn man folkloristische Haltungen beiseitelässt – Kapitalismus überwinden, damit lösen sich alle Probleme, Klimanotstand gibt es nicht –, glauben die übrigen Parteien unterschiedlich intensiv daran, dass die Lösung in einer Art grünem Kapitalismus läge. Es geht um technische Machbarkeit umweltschonender Energie, Mobilität, Nahrung, Konsum. Vor allem aber appellieren sie an unser Gefühl, schon genug zu tun, versprechen, dass wir keinen ernsthaften Preis für unseren Lebensstil bezahlen müssten.

Solche Versprechen wollen wir furchtbar gerne glauben. Weil wir dann weniger verantwortlich sind für Meeresspiegel, Starkregen, Hitzeperioden, Kriege, Flucht, Pandemie. Nicht mit dem Amazon-Einkauf, dem Billigflug, dem neuen Mobiltelefon, der Spielerei mit Krypto-Währungen. taz-Chefreporter Peter Unfried macht das am ausgeprägten „Wunsch nach Gegenwart“ als Transmissionsriemen zwischen Großer Koalition und Wähler*innen fest: „Union und SPD aber haben Klimapolitik nicht aus moralischem Versagen marginalisiert, sondern weil es eine stillschweigende Vereinbarung mit der Mehrheitsgesellschaft gibt, dass man gerne öko daherredet, aber selten ökologische Politik macht.“

Maren Enke bekommt häufig Probleme, wenn am Abendbrottisch Politik Thema wird. „Ich kann mich nicht raushalten“, sagt sie, wenn Freunde ihrer Mutter über Ausländer herziehen, die hier nichts zu suchen hätten, Hartz-IV-Empfänger seien faul, während sie eben arbeiten müssten. Üblicher Satz in Sangerhausen: Ich verdiene nicht genug, um die Grünen zu wählen.

Gängige Grünen-Ängste in der Region: Autofahren, Urlaubsflüge, Heizkosten, das Nackensteak, alles würde teurer. Oder, konkreter Fall: Vor vier Jahren baute eine Investorengruppe ihr riesiges Gewächshaus doch nicht – artgeschützte Feldhamster siedelten im Gewerbegebiet, Umweltschutz schmälert Gewinnmargen. Wütende Reaktionen in der Stadt, die grobe Weltsicht wärmte sich an Feldhamster-blockieren-Arbeitsplätze-Sprüchen, der Bund der Steuerzahler assistierte der Perspektive, die nicht nur in Sachsen-Anhalt beliebt ist: Die da oben verprassen unser Geld. Die Ausgaben für den Tierschutz seien „völlig überzogen“. Hatte wenig mit den Grünen zu tun, wurde ihnen aber aufs Brot geschmiert.

Maren Enke erzählt, dass der Blick auf den Klimanotstand in ihrer Familie dem auf Covid ähnelt: Warum sollen wir uns einschränken? Klare Erwartung, geringer Eigenanteil: Die Regierung soll uns gefälligst von alldem verschonen. Führt dazu, dass sie schräg auf die Tochter schauen, die nicht einsehen will, dass ein Weihnachtsfest mit 15 Personen zu Hause nicht angebracht sei. Enke fuhr früher zurück nach Leipzig, man merkt noch ein halbes Jahr später ihren Ärger.

Die Sozialpsychologie kennt den Prozess der kognitiven Dissonanz. Sehr gegenläufige Eindrücke prallen aufeinander, verursachen Unbehagen. Um das geradezubiegen, muss man Eindrücke verdrängen, mit viel Kraft eine Form von Harmonie zusammenleimen. Böse gesprochen: Wir lügen uns in die Tasche. Ein anderes Phänomen koppelt sich daran: Wenn Onkel Klaus bei der Familienfeier nicht weiß, wohin mit seinem Unbehagen, beschimpft er Veganer, weil sie ihn an das moralische Problem auf seinem Teller erinnern. Die Erzählung des Zukurzkommens hilft, einen ökologisch verträglicheren Lebensstil abzublocken: Andere sollen sich mal zuerst einschränken.

Klimakiller Tierhaltung

Die Verdrängungsleistung ist erheblich: Lässt man Tierleid und Arbeitsbedingungen in Großschlachtereien außen vor, errechnen neuere Studien bis zu einem Drittel aller Treibhausgase weltweit als Konsequenz der Tierwirtschaft. Flächen werden abgeholzt, Luft und Boden verdreckt, Ressourcen verschwendet. Im Auftrag von Greenpeace rechnete eine Agentur für Nachhaltigkeitsberatung aus, dass in Deutschland jährlich knapp sechs Milliarden Euro solcher Kosten durch Umwelt- und Klimaschäden entstehen, die auf die Allgemeinheit umgelegt werden. Alles sattsam bekannt. Man kann also Christian Kassung fragen, warum wir beinahe noch immer so viel Fleisch essen wie vor 100 Jahren. Kassung lebt nicht in Sangerhausen, sondern in Berlin, insofern praktisch, weil er Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität ist.

Im Fleisch, sagt Kassung beim Videogespräch, liegen unglaublich viele Archaismen. Wenige Dinge seien so aufgeladen mit Bedeutung wie das Bild des Mannes am Grill. Darin stecke die Symbolik von Fest und Gemeinsamkeit, die kulturelle Praxis, Essen zu teilen. Unmittelbar wirksame Eindrücke, die sich an Geschmack koppeln. Für sein Buch Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung verwebt er den Blick auf die rasche Produktionssteigerung bei Schweinefleisch im 19. Jahrhundert mit Analysen von Arbeitsteilung, Verstädterung, Architektur oder Konservierung. Er überschaut Geburt und Entwicklung einer „riesigen Maschine (…), deren Zweck bis heute die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Fleisch ist“. Dabei hat sich das Industrieprodukt eine zweite Natur umgelegt – Fleisch sei gesund, mache stark –, kompensierte alle Entfremdung von der Handarbeit des Aufziehens und Schlachtens. Wenn man ihn also fragt, warum wir so viel Fleisch essen, weist er genau darauf hin, auf unsere Kulturgeschichte.

Wer Dinge ändern will, müsse das Erbe der Industriegesellschaft mitdenken: Fleisch zu essen bedeutete symbolisches Kapital für breite Massen, zeigen zu können, dass sie genau das essen konnten, was auch Wohlhabende auf dem Teller hatten. Unser ganzes kulinarisches System, sagt Kassung, ist auf die Industrieware Fleisch ausgerichtet. Sich daraus zu lösen, hieße, sich Wissen zu erarbeiten, sich Mühe zu machen. Ihn deprimiert, dass es keine Partei gebe, die da politisch eingreife, er klingt empört: Nicht einmal die Grünen wagen das noch.

Denn die Gefahr ist deutlich – in der Industrieware Fleisch liegt ein Freiheitsversprechen: Ich wähle, was ich esse, bin nicht mehr abhängig von jemandem, der aufzieht, schlachtet, kocht. Ähnlich geht es beim Kleiderkauf oder beim Autofahren: Ernsthafte Klimapolitik beschränkt den zum Egoismus geronnenen Libertarismus. Regulation bedeutet auch Verknappung, Verteuerung, Verbot.

Aber schon Angebote haben es schwer: Man kann sich mit dem Grünen-Spitzenkandidaten im Wahlkreis Eisleben treffen, Jürgen Grobe führt durch Rothenschirmbach. Er ist hier aufgewachsen, war für die SPD elf Jahre Ortsbürgermeister. Grobe schaut über den Tellerrand seines Wahlkreises, spart nicht mit Kritik an seiner neuen Partei, die zwar Ziele formuliere, aber den Menschen auf dem Land kaum vermittle, wie sie dahin kämen. Im Gewerbegebiet steht ein Landmarkt mit regionalen Produkten. Rund 90 Prozent der Umsätze, hat ihm der Geschäftsführer erzählt, macht der Markt mit Kund*innen von außerhalb. Wenn man fragt, ob seine Nachbarn hier nicht einkaufen wollten oder nicht könnten, antwortet Grobe mit einem Verhältnis: 80 zu 20.

In der Region hängt kaum Wahlpropaganda der Grünen. Die Kreisvorsitzende Elke Wiesenberg-Möller verliert dazu in ihrem Garten eher einen Nebensatz, nämlich dass sie von Plakaten nichts halte. Diesmal hätten sie mal ein paar aufgehängt. Sie erzählt, wie kompliziert Corona den Wahlkampf gemacht habe. Auch andere Dinge scheinen schwierig: Die Internetseiten werden sehr selten aktualisiert. Maren Enke hatte angeboten, die sozialen Medien zu betreuen, nur seien die Passwörter verschütt. Wenn man die Kreisvorsitzende fragt, wie lange schon, will sie zu einem anderen Thema springen, antwortet dann doch: seit zwei Jahren. Auf dem Marktplatz fasst sich Maren Enke an den Kopf.

Ein Wochenende später gewinnt die CDU die Landtagswahl. Zählt man Stimmen für AfD und FDP hinzu, haben 64,3 Prozent Parteien gewählt, für die Klimapolitik höchstens Rhetorik ist. In Sangerhausen bekamen die Grünen drei Prozent, in Jürgen Grobes Wahlkreis einen halben Prozentpunkt weniger. Maren Enke war am Wahlabend sehr frustriert, und das steigerte sich: Die Grünen mussten eine Wahlempfehlung für den ehemaligen Finanzminister André Schröder zur Landratswahl abgeben. Schröder ist Christdemokrat, sieht fast überall Linksextremismus. „Wir mussten ihn empfehlen“, sagt Enke, man merkt, wie es in ihr arbeitet. In die Stichwahl ging es gegen eine Kandidatin der AfD. Auch sonst, Verzweiflung: Die drängenden Probleme werden liegen bleiben, sagt sie, das Ergebnis bedeute Stillstand. Dann ist sie länger still.

Zu viel Öko hilft der AfD

Kann man Umweltpolitik nicht längst ausreichend moralisch begründen? „Ich wiederhole mich da“, antwortet Carsten Träger und wiederholt sich wirklich: „Eile mit Weile.“ Man kann Carsten Träger gut zu den politischen Ideen der Grünen befragen, weil er sie als umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion genau beobachtet. Er tritt wieder in einem Wahlkreis an, der ein Dreieck bildet, das viele Probleme kennt, von denen Maren Enke erzählt. Und noch dazu eine urbane Mittelschicht, die zu den Grünen neigt: Von Fürth streckt sich eine Linie nach Südwesten, eine nach Nordwesten, in großen Teilen seines Wahlkreises, sagt Träger nebenbei, gebe es keinen öffentlichen Nahverkehr. Das Dreieck greift von der Großstadt über Bauernland, durch Dörfer und Kleinstädte. Zuletzt holte Christian Schmidt von der CSU das Mandat mit 39,9 Prozent.

Man muss abwägen, sagt Träger. Und zwar zwischen Politik gegen einen Klimanotstand und Gefahr für die Demokratie. Ohne Übergang ist er bei der AfD: Es wäre niemand geholfen, wenn wir denen die Wähler in die Arme treiben, die den Klimawandel direkt leugnen. Es wäre schädlicher für das Gesamtprojekt Klimaschutz, kurzfristig den CO₂-Preis zu sehr zu erhöhen. Das hätte keine gesellschaftliche Lenkungswirkung, sagt Träger, und wirkt langfristig kontraproduktiv. So sieht sie also aus, die Angst vor unserer Schizophrenie.

Für Carsten Träger sind viele Forderungen der Grünen wohlfeil – kurzfristige Überschriften, die unser grünes Gefühl in Wallung bringen, einfache Lösungen anbieten sollen. Läuft nicht gut, kann man feststellen. Ein aufgeblasener Lebenslauf, Versprecher, nachgemeldete Extra-Einkünfte und ein furchtbar banales Politiker*innen-Buch später ist die Euphorie um Annalena Baerbock zerplatzt. Unter dem Trommelfeuer von Springer-Konzern und Netz-Trollen ist alle Leichtigkeit gewichen, sie scheint sehr bemüht, der großen Wahlkampftrompete überzeugende Töne abzuringen. Die Laune ist schlecht, Baerbock läuft den Dingen hinterher. Dem ARD-Deutschlandtrend vom 5. August antworteten nur 16 Prozent der Befragten, dass sie sich eine Kanzlerin Baerbock wünschten, im Mai waren es 28. Die SPD hat aufgeschlossen. Nassehis kürzester Weg in unterschiedliche soziale Milieus ist vielleicht nur ein theoretisches Konstrukt.

Aber Baerbock ist ein Beispiel dafür, wie fragil der Boden für moralische Begründung von Politik, wie unzuverlässig unser grünes Gefühl ist. Wahlentscheidungen für Angela Merkel, sagt Carsten Träger, hatten immer ganz viel damit zu tun, dass sie ausgestrahlt hat: Sie kennen mich, ich bin die Bewährte, bei mir sind Sie gut aufgehoben. Das komme Menschen entgegen, die der Politik entfremdet seien, denen Politik zu komplex sei. Menschen, mit denen Maren Enke viel zu tun hat.

Andersherum sind Grüne, selbst wenn ihr Wahlkampfprogramm längst seifenglatt ist, die Vegetarier auf der Familienfeier. Sie erinnern uns stumm an unsere Verdrängungsleistung. Dafür trifft sie Zorn von allen Seiten. Aber: Moralisch grundierte Politik kann nur vertreten, wem man moralische Haltung zutraut. Wer seine Glaubwürdigkeit verspielt, kann sich nicht mehr dazu aufschwingen, Regeln vorzugeben. Inhalte – dass etwa Erderwärmung der Landwirtschaft seit 1961 einen Produktivitätsverlust von 21 Prozent beigebracht hat – interessieren uns viel weniger.

Womit wir zurück im Mansfelder Land sind. Hier wurde seit Anfang des 13. Jahrhunderts Kupferschiefer abgebaut, Zechstein, Sand, Salze. Richtung Eisleben lagen Eisenerze. Der Boden ist landwirtschaftlicher Goldstandard: Von der Magdeburger Börde bis zur Goldenen Aue strecken sich weite Ackerflächen mit Schwarzerde, bessere Böden gibt es nirgends in Deutschland. Inzwischen sind Gruben und Zechen zu, die Mitteldeutschen Fahrradwerke beschäftigen nach einigen Insolvenzen noch 75 Menschen. Die Landwirtschaft ist geblieben – in Sachsen-Anhalt gehören im Schnitt 281 Hektar zu jedem Betrieb, im Bundesdurchschnitt sind es 67. Großbetriebe fahren besonders gut mit der konventionellen Subventionspolitik. Zwar bessert sich die Situation, aber das Statistische Bundesamt findet in Sachsen-Anhalt immer noch jeden Fünften von Armut bedroht – schlechtere Zahlen hat nur Bremen. Für die einen, könnte man meinen, ist grüne Moral Schmuck. Auf die anderen wirkt sie vielleicht existenzbedrohend.

Maren Enke sagt noch, dass für ihren Geschmack der Strukturwandel in der Gegend, die Probleme der Landwirtschaft viel zu wenig im Wahlkampf thematisiert wurden. Das können sie jetzt mit Blick auf die Bundestagswahl anders machen: Sie hat die Öffentlichkeitsarbeit übernommen. Und tatsächlich Passwörter für die sozialen Medien bekommen.

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