Vor dem Sturm

Ausnahmezustand Hamburg bereitet sich auf den G20-Gipfel und die Proteste der Gegner vor. Schon vorher prallen die verschiedenen Interessen hart aufeinander
Ausgabe 25/2017
Rote Flora mit blauem Leuchtstoff
Rote Flora mit blauem Leuchtstoff

Foto: Jörn Pollex/Getty Images

Sie haben die Schaufenster mit Steinen malträtiert, das Eckhaus, gleich links am Eingang der Straße Richtung Altona. Dazu haben sie kräftig und grün gesprüht, dass es gegen den Kapitalismus gehe. An diesem Morgen ist der Tag grau, der Himmel wird sich erst später für Nieselregen entscheiden. Es ist noch wenig Betrieb auf dem Schulterblatt. Um das Eckhaus steht ein Gerüst mit dem Hinweis, dass trotz Baustelle offen sei. Das Schild ist krakelig signiert. „Roter Aufbau“ steht da. Willkommen im Hamburger Schanzenviertel.

Der Verfassungsschutzbericht der Hansestadt widmet dem Roten Aufbau einen eigenen Absatz – Kapitel IV. Linksextremismus, Abschnitt Anti-Imperialismus: Die Gruppe halte Marxismus-Seminare ab und habe nichts gegen Gewalt. Mit einem Bündnispartner hätte sie einen Beitrag zum 1. Mai veröffentlicht, darin der Satz: „Nur ein revolutionärer Bruch mit dem Kapitalismus ... bietet die Möglichkeit, eine andere Gesellschaft aufzubauen.“

Die Steinewerfer hätten auch viele andere Geschäfte zerdeppern können, das Schulterblatt ist eine Vergnügungsmeile. Aber die Schaufenster glänzen an diesem Morgen. Nur der Eckladen ging wohl zu weit, er trägt den Namen „Kauf Dich Glücklich“.

Nicht nur der Rote Aufbau bereitet sich auf den G20-Gipfel in Hamburg vor. Zahlreiche Initiativen, politische Gruppen und zivilgesellschaftliche Akteure haben Aktivitäten zu dem Gipfel vorbereitet. Viele wollen ihren Widerstand gewaltfrei artikulieren, aber der Anwalt Andreas Beuth, der in Hamburg die linke Szene vertritt, hat vergangenen Samstag bereits angekündigt, dass zu dem Gipfel auch der größte Schwarze Block zusammenkomme, „den es jemals gegeben hat“. Und an diesem Montag verübten G20-Gegner mehr als ein Dutzend Anschläge auf Bahnstrecken.

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    Bild 2: Seattle 1999, Geburtsstunde der Globalisierungskritik

    Foto: Dan Levine/AFP/Getty Images

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    Bild 3: Erinnern an den Aktivisten Carlo Giuliani in Mailand

    Foto: Damien Meyer/AFP/Getty Images

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    Bild 4: Heiligendamm 2007

    Foto: Carsten Koall/Getty Images

Zwischen Gewalt und friedlichem Protest

Mitte Juni verübten Unbekannte mehrere Brandanschläge auf das Netz der Deutschen Bahn. Sie verursachten ein Dutzend Kabelbrände und legten teils den Schienenverkehr lahm (Bild 1). In einem Bekennerschreiben wurde die Attacke als Aktion gegen den G20-Gipfel definiert.

Der Protest zu internationalen Gipfeltreffen hat Tradition. Als Geburtsstunde der Globalisierungskritik gilt die WTO-Konferenz in Seattle 1999 (Bild 2). Wegen der massiven Proteste konnte die Konferenz nicht wie geplant stattfinden und wurde ins leichter zu kontrollierende Doha in Katar verlegt. Im Vorfeld des WTO-Gipfels wurde damals das Nachrichtenportal Indymedia gegründet, auf dem jetzt auch das Bekennerschreiben veröffentlicht wurde.

Der G8-Gipfel in Genua 2001 markiert den traurigen Höhepunkt der Gewalt zwischen Polizei und Aktivisten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Italien danach wegen eines Polizeieinsatzes, bei dem der Demonstrant Carlo Giuliani (Bild 3) von einem Polizisten erschossen wurde. Seitdem werden Gipfeltreffen meist an abgelegenen Orten abgehalten.

2007 kamen Tausende nach Heiligendamm, um dort gegen den G8-Gipfel zu demonstrieren (Bild 4). Der Küstenort wurde massiv abgeschirmt. Die Polizei erließ ein 40 Quadratkilometer weit reichendes Demonstrationsverbot rund um das Seebad. Fünf Jahre später entschied ein Gericht in letzter Instanz, dass dieses Verbot rechtswidrig gewesen war.

Geografisch noch mehr abgeschirmt war 2015 der Tagungsort Schloss Elmau in den bayrischen Alpen. Protestiert werden durfte zudem nur außerhalb einer acht Kilometer breiten Sicherheitszone (Bild 5). Aufgrund der enormen Sicherheitsmaßnahmen schätzte der Bund der Steuerzahler die Kosten des zweitägigen Gipfels insgesamt auf 360 Millionen Euro. Marlene Brey

Auf dem autonomen Hamburger Kulturzentrum Rote Flora thront schon länger ein stacheldrahtumkränzter Schriftzug: „No G20“ (Titelbild). Auf der anderen Straßenseite sitzt an diesem Morgen Thomas Deuber im Café, 67 Jahre, grobe Chelsea-Boots, Hose, Jacke, Weste – alles aus kräftigem Garn. Der schmale Kinnbart ist genauso weiß wie die langen Haare unter der Schiebermütze, er raucht Selbstgedrehte, früher war er im Kommunistischen Bund Nord.

Deuber unterrichtete an einer Gesamtschule Medien- und Arbeitslehre, auch Mathematik. Vor zehn Jahren organisierte er eine Schulfahrt zu den Protesten gegen den Gipfel in Heiligendamm. Jetzt ist er bei Attac und fasst schon in den ersten Sätzen zusammen, was in den nächsten Tagen eigentlich alle Gesprächspartner sagen werden: Die G20, die unter deutschem Vorsitz am 7. und 8. Juli in Hamburg tagt, sei „nicht legitimiert“. Das Treffen sei eine Showveranstaltung, eine informelle Weltregierung, die einem staunenden Publikum weltweit versichern wolle: „Wir haben’s im Griff.“ Vor allem aber: „Das ist ein großer Fototermin. Die tun so, als würden sie die Probleme lösen und als würden sie vorher NGOs einbeziehen. Mehr nicht.“

Ritualisierte Inszenierungen

Politische Mythen sind symbolgeladene Erzählungen. Sie leben durch Rituale, sollen in ein Kollektiv integrieren, grundlegende Ordnungsprobleme ansprechen, politische Steuerung erleichtern. Ein wichtiger Teil der Inszenierung des politischen Mythos, erklären die Politikwissenschaftler Andreas Dörner und Ludgera Vogt in einem Aufsatz, seien Wahlkämpfe. Bürger und Parteimitglieder – alle sollen sich einbezogen und gefragt fühlen.

Etwas anderes ist der internationale Politikergipfel mit seinen weltumspannenden Anreisen, seiner Exklusivität: Ein Gipfel der wichtigen, mächtigen Nationen ist das Gegenstück zum Wahlkampf, aber auch er ist Teil der rituellen Inszenierung des Politischen. Hier soll Macht geballt auftreten, der Schulterschluss der großen Welt vor der heimatlichen Kulisse fungiert als Vergewisserung eigener Wichtigkeit. Angela Merkel hatte sich sehr um den Vorsitz der G20 bemüht. Das mache sich gut im Wahlkampfjahr, so wohl die Überlegung. Hamburg soll ihre Idee gewesen sein.

Ein Anruf beim Sprecher des Hamburger Senats. Jörg Schmoll kommt kurz ins Grübeln – nein, eine Situation, in der ein Bundesland der Regierung einen solchen Gipfel ausreden will oder sich dagegen wehrt, sei „eigentlich gar nicht denkbar“. Die Bundeskanzlerin hätte die Messehallen auch mieten können, ohne vorher den Bürgermeister zu informieren.

Offensichtlich aber macht sich das Ganze nicht so richtig gut in Hamburg. Zwar warnt der SPD-Innensenator Andy Grote nach Kräften vor Linksextremismus, erklärt, radikale Elemente würden „populäre Themen wie die Proteste gegen G20 missbrauchen, um ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu verfolgen“. Aber so richtig verfängt die staatstragende Botschaft nicht. Grote will trotz der Präzedenzfälle in Schloss Elmau und Heiligendamm versuchen, Protestcamps in der Stadt verbieten zu lassen – hier würden Straftaten vorbereitet. Gerade, als Thomas Deuber sein Kaffeegeschirr zusammenstellt, kommt die Nachricht: Das Versammlungsrecht zwischen Flughafen und Innenstadt ist zur Gipfelzeit aufgehoben.

Vielleicht hofft Senator Grote sich mit drakonischen Maßnahmen profilieren zu können, aber im Moment kostet es wenig, in Hamburg zu demonstrieren. Und die Stadt hat einige Erfahrung mit Protest, der zunächst klein beginnt. Ein Volksentscheid gegen eine Bildungsreform des schwarz-grünen Senats stürzte 2010 Bürgermeister Ole von Beust. Kurz darauf veranlasste ein Bürgervotum den Senat, die Energienetze zurückzukaufen. Im November 2015 stimmten dann 51,6 Prozent gegen die Olympia-Bewerbung. Die Initiative war dabei stets von kleinen Gruppen ausgegangen, vor allem die Olympia-Ablehnung hinterließ Spuren: Platter Symbolismus und teure Veranstaltungen, von denen wenig für die Stadt übrig bleibt, sind in Hamburg seitdem extrem unbeliebt.

Deuber zitiert das konservative Hamburger Abendblatt, es hatte erhoben, dass etwa ein Drittel der Befragten während der Tage die Stadt verlassen wolle, ein weiteres Drittel wolle auf Demonstrationen gehen. Drei Viertel der Bürger sprachen sich grundsätzlich gegen die Veranstaltung aus.

Anfang Juni stellte ein Polizist anonym eine erschöpfte Klage ins Netz. Der Kern waren empörte Fragen an die Organisatoren: „In meiner Ausbildung habe ich mal etwas über ‚Erforderlichkeit‘ und ‚Verhältnismäßigkeit‘ gelernt, nach deren Vorhandensein polizeiliche Maßnahmen geprüft werden sollen. Verraten Sie mir, welchen Durchbruch erwarten Sie (...), dass man tausende Bürger in ihren Grundrechten einschränkt, Gewerbetreibenden finanzielle Einbußen zumutet und hunderte Menschen zeitweise in ihren Wohnungen einsperrt? Wie kommen Sie darauf, die Grundrechtseingriffe und Maßnahmen, die Sie den Bürgern zumuten und durchsetzen lassen, seien irgendwie verhältnismäßig, erforderlich oder sinnvoll?“

Sein Ärger wird von vielen geteilt. Gegen den Gipfel organisieren Stadtteilversammlungen, Nachbarschaftsgruppen, Künstlervereinigungen. Sie planen Aktionen, spontane Versammlungen, eine Gegenkonferenz mit Workshops, Schüler wollen auf die Straße, sogar ein kritischer Gottesdienst ist geplant. Zwar fällt nur gelegentlich auf, dass das ambitionierte Ziel der Pariser Klimakonferenz in Deutschland, Großbritannien oder China auch nicht in nationale Politik überführt wird. Donald Trumps Kündigung des Vertrages hat aber ungleich mehr Aufsehen erregt: Ein Hotel hat ihn deshalb schon abgewiesen. Über so etwas freuen sie sich bei Vorbereitungstreffen. Thomas Deuber destilliert noch einen stärkeren Eindruck aus der behaglichen, wohlsituierten Stadt: „Viele sind überzeugt, dass es so, wie es gerade läuft, nicht weitergeht.“

Im Mai realisierte auch die rot-grüne Senatsregierung, dass Ärger in der Stadt herrschte. Zwar halten viele Zeitungen Protestlern einzig die Frage vor die Nase, wie sie es denn mit der Gewalt hielten, für die eilig einberufene Demonstration „Hamburg zeigt Haltung“ machten dann aber sowohl Springers Morgenpost als auch Olaf Scholz Werbung. Diese Demo, erklärt Senatssprecher Jörg Schmoll, sei „eine Kundgebung für die Werte unserer Demokratie, für Menschenrechte und unsere offene Gesellschaft“. Ein seltsamer Moment, wo die ganze Stadt gerade gegen den Gipfel demonstriert? Schmoll korrigiert: „Das ist keine Demonstration gegen den Gipfel. Aber die Stadtgesellschaft will zeigen, dass sie für etwas anderes steht, als es Putin und Erdoğan tun. Und sie will dabei nicht ‚Kapitalismus versenken‘ rufen.“

Museum als Entschädigung?

Thomas Deuber kennt diese Argumente, er zieht scharf Luft durch die Zähne und schmunzelt. Der Senat habe Probleme, das Gipfeltreffen zu rechtfertigen. „Jetzt überlegen sie, dass man dafür am Sonntag, wenn der Spuk vorbei ist, die Museen umsonst besuchen darf.“

Wohl nicht ins Museum geht dann Emily Laquer. Laquer, 30 Jahre alt, ist eine Sprecherin der Interventionistischen Linken, ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet. Laquers Blick hat wenig mit einem gehetzten Polizisten gemein, oder mit Shoppern, die ihren Konsum vertagen müssen. Für sie ist Protest mehr, für sie ist er Widerstand gegen ein System. Wenn man sie aber fragt, ob sich der Protest in Hamburg in Symbolen erschöpft, Inhalte in den Hintergrund treten, zögert sie kurz: „Jein. Der Protest ist symbolisch. Aber der ganze Gipfel ist symbolisch.“

Und auch der Protest ist Ritual, auch er soll einen Mythos begründen. Emily Laquer ist Amerikanerin, sie ist euphorisch und sie spricht viel vom Kämpfen, ohne dabei ihren netten Ton zu verlieren. Sie war in Heiligendamm dabei, das habe ihr Leben fundamental verändert. Sie erkennt jetzt vor dem Gipfel „Brüche in der Hegemonie des Kapitalismus“, weil „Festungskapitalisten wie Donald Trump und Theresa May“ mit Mauern, Grenzen und Rassismus „gegen Globalisierer, die offene Grenzen wollen, aber für Mercedes und nicht für den Flüchtling“, stünden. Und sie hofft, auf der Straße Alternativen dagegen finden zu können.

Die Wiederkehr des Heiligendamm-Erlebnisses soll für Laquer eine ästhetische Sinnstiftung sein: „Da hab ich gemerkt: Wow, wir sind nicht marginalisiert, wir sind ganz viele. Dieses Gefühl habe ich mitgenommen in meine lokalen Kämpfe. Das erhoffe ich mir auch in Hamburg, dass Menschen dieses Gefühl in die Arbeit mit Prekarisierten mitnehmen, in Krankenhaus-Streiks, in Mieter-Kämpfe, in Kämpfe gegen Abschiebung.“

Erst einmal geht man jetzt das Schulterblatt wieder hinab. Nach dem Treffen mit Thomas Deuber kann man die hübsche Pointe im Eckladen erkennen: Die gesprungenen Fensterscheiben sind mit Panzerband und neuem Glas überklebt, unter der Einrüstung wirkt die Fassade wie vom Kampf gestählt. Sie passt prima neben die Häuserkampfnarben der Flora, mit all den Aufrufen und Aufklebern. Der Widerstand ist hier aufgegangen in den Spielarten des ästhetischen Kapitalismus. Schon am Vormittag ist der Laden gerammelt voll.

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