Wenn der Frühling durch graue Wolkendecken bricht und die Sonnenstunden zunehmen, beginnt die Wandersaison. Auch in Covid-19-Zeiten ist Wandern – allein oder paarweise und in heimischen Gefilden – relativ ungefährlich. Bevor man aufbricht, kann man sich in Katalogen für die Wanderausrüstung an komplizierten Namen und sensationellen Neuerungen fürs Erklimmen von Felsen und Durchqueren von Mooren freuen. Oder Wanderbücher lesen.
Zum Beispiel Albert Kitzlers Vom Glück des Wanderns, einen „philosophischen Wegbegleiter“. Der beginnt gleich mit einer Warnung, auch wenn Kitzler sie so wohl nicht gemeint hat: „Wandern und Denken haben etwas Meditatives.“ Was folgt, ist eine buchgewordene Klangschale, knapp 300 Seiten im verständig dozierenden Ton, fast schon belästigend freundlich.
Denn die Betonung liegt von Beginn an auf dem „Meditativen“. Es geht viel um Wege, Lebenswege, Sinn, Gesundheit, Glück. Tatsächlich auch um das Gehen, oder allerlei Formen von Bewegung. Kitzler verrührt Sinnsätze, Ausschnitte aus philosophischen Arbeiten oder „Werken der Weisen“ – all das umschwappt einen wie warmes Badewasser. Kitzler versteht Philosophie als Affirmationssoundtrack.
Das Angeln der inneren Mitte
Der gewesene Dozent, Filmproduzent und jetzige Denkschulen-Betreiber schreibt vom hektischen Alltagsleben und dem Gegenpol, dem „inneren Selbst“, das zum Beispiel durch Gehen sich seiner „inneren Mitte“ näher fühlen kann, zur „inneren Ruhe“ kommt. Und so weiter. Wandern ist eine instrumentelle Geschichte, schickt uns in den Wald, damit der Ärger verraucht, führt zu etwas Wesentlichem (was dann in Verbindung zu dem Begriff von „Seele“ daherkommt) und überhaupt zu einem Gegenpol von Gegenwart. Kitzler selbst schmiss seine Karrieren – während er in der Natur wandelte. So gesehen ist das Zentrum seiner Ausführungen ein durch verschiedene Themenblöcke variierter Blick auf Gegensätze: „Ununterbrochene Vielbeschäftigung ist nur scheinbare Lebendigkeit, in Wirklichkeit häufig Zerstreuung, Flucht und Leerlauf. Das Wesentliche unseres Lebens besteht nur aus wenigen fundamentalen Dingen wie etwa innerer Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit, Seelenruhe und guten menschlichen Beziehungen.“ Dabei liest sich manches Ritual und manche Schnurre aus fernen Ländern interessant, nur alles viel zu hygge – wenn der Abbau „wichtiger Nervengewebe (…) durch Wandern verlangsamt“ wird, kompensiert Kitzlers Begleiter das mit Ton und Form.
Im Dunkeln reduziert sich, was wir von der Welt sehen, Werke der Weisen kann auch niemand lesen, wir hören mehr, ertasten den Weg vor uns und lernen sehr schnell die zu hassen, die mit Taschenlampen durchs Gelände laufen. In Chris Yates’ Nachtwandern. Eine Reise in die Natur weist zum Glück nichts darauf hin, dass hier irgendjemand irgendetwas mit Philosophie vorhat. Yates ist in Großbritannien als Angler (und also Angelbuchautor), aber auch als BBC-Radiomann bekannt.
Nachtwandern beschreibt einen Bogen: Ein Mann verlässt mit dem Verglühen des Tages sein Haus im Osten der North Downs, einem Höhenzug Südenglands. Not quite allerdings, kleiner Schlenker, er will vorher noch erklären, dass er eigentlich eben Angler ist, auch angeln würde, wenn es ihn nicht „zu einer anderen verlockenden Tätigkeit“ zöge. Schon ist angedeutet, was sich später deutlicher zeigt: interessanter Ansatz, aber Probleme mit dem Ton. Schwierigkeiten, zum Punkt zu kommen. Vielleicht der Übersetzung geschuldete Umständlichkeiten.
Es kann passieren, dass vor Yates ein einzelner Baum raschelt, „in einer aufgewühlten Landschaft wie dieser mit ihren hohen begrasten Hügeln und den tiefen, engen Tälern. Wenn die Luft am Ende eines Sommertags zur Ruhe kommt, verweben sich verschiedene Strömungen zu einem feinen Geflecht: Von den Hügelkuppen ergießt sich kalte Luft, während an den Rändern der Niederungen warme Luft aufsteigt, sodass ein eng eingegrenztes Wettersystem aus schwachen Fall- und Aufwinden entsteht, das wie hier auf dem Schafsfeld erstaunliche Nebenffekte haben kann.“
Vermutlich eine Wühlmaus
Viel Erklärung und noch mehr Wille zur Beschreibung: Die Sätze werden schwergängig, lang, ihr Rhythmus geht nicht auf, sie öffnen nicht den Blick auf das Rauschen dunkler Wälder, tänzeln nicht auf einem schmalen Steig, sondern rasseln immer wieder mit etwas zusammen, stolpern, schieben sich unelegant ins Blickfeld. Verben verrutschen, Substantivierungen wirken ungalant: Da „zuckelt“ ein Nagetier, „vermutlich eine Wühlmaus“, „ihr Rascheln“ wird übertönt „vom zufriedenen Mampfen eines Schafes beim Mitternachtsmahl, rechter Hand am Hang“. Die Idee ist sexy, wir gehen gerne mit Yates bis in den Morgen. Aber immer wieder wird der Leser zurückgeworfen von solchen Konstruktionen. Vielleicht funktioniert Landscapism im Original einfach eleganter.
Der Weltwanderer, Extremgeher, Everest-, Antarktis-, Nordpol-Bezwinger Erling Kagge hat es doch vorgemacht. Er verbindet mit seinem federleichten Band Gehen. Weiter gehen Episoden, vorbeifliegende Fetzen, Eindrücke, die dennoch von unmittelbaren Eindrücken abstrahieren, mit Gelesenem und Besprochenem. Seine Rhythmus und die von Recherchen grundierten Eindrücke entsprechen oft dem Gehen selbst: banale, intensive, ärgerliche, schmerzhafte oder herzerwärmende Episoden reihen sich aneinander, verlieren sich im nächsten Moment im Wald, werden vom Regen verhängt oder von einem beschleunigenden Motorrad zersägt.
Die Leichtigkeit funktioniert noch in den – erfrischend seltenen – Abschnitten, in denen Kagge mit Begriffen wie „Seele“ hantiert, sich Ausschläge auf dem Pathos- oder Esothermometer einfängt. Selbst wo es rustikal zugeht, Schlüsse schon zweifelhaft klingen, weil Kagge über Extremsituationen sinniert, die neben banalen Eindrücken einen Wanderer glücklich machen, weil sie die blanke Gegenwart als eine Art „Paradies“ erscheinen und den Zeithorizont zusammenschmelzen lassen, tut er das mit einer unaufdringlichen Gelassenheit: „Wir suchen die Gefahr, weil das Erleben von intensiven Situationen und der Fähigkeit, sie zu meistern, eine Bestätigung unserer eigenen Lebenskraft ist. Einige Zehntelsekunden werden als Ewigkeit erlebt. Nur das Hier und Jetzt spielt eine Rolle, wenn du Durst hast und einen Bach findest oder auf einem Stein sitzt und beobachtest, wie die Wolken sich bewegen. Der Augenblick und die Ewigkeit müssen keine Gegensätze sein. Die Zeit wird aufgehoben, und beides kann gleichzeitig erlebt werden.“
Solche Gelassenheit kommt mit dem Gefühl von Wikingerbart und Flanellhemd daher, macht aber Lust auf neue Etappen. Und scheint uns auch zu lehren, es nicht zu ernst zu nehmen mit den Wanderbüchern.
Dann aber ist da noch ein 20 Jahre alter Text von Rebecca Solnit, der all diese Erkenntnis wieder umwirft: Wanderlust. Er hält der Wander-Literatur eine Messlatte vor. Solnit spannt einen Bogen von der Suche nach dem Ursprung der Bipedie bis zur abstrusen Simulation von Leben, Natur, Begegnung, Bewegung und Sozialität: Las Vegas. Dabei bleibt ihr Ton zurückhaltend, hier wird Gehen weder als Introsprektionsmasche oder Therapieform apostrophiert noch ein Band mit Beschreibungen vollgepetert. Sie läuft behände und strukturiert durch die Geschichte der Philosophie, wechselt auf anthropologisches und kunsthistorisches Territorium, schaut auf Promenaden und Plätzen nach, die im Paarungsverhalten eine wichtige Rolle spielten, aber seit einiger Zeit eher weniger befahren werden. Findet wenige wandernde Frauen, die zudem entweder unter der historischen Aufmerksamkeit drunterherliefen (wie die Schwester des ihm Gehen dichtenden William Wordsworth) oder sich mit Männerkleidern schützen mussten.
Entspannte, klug reflektierende Ausflüge in symbolisches Gelände und die kuriose Bedeutung von Labyrinthen bringen sie darauf, das Prinzip von Pfad und Route neu zu betrachten: Solnit spürt dem historischen Wandel nach, sortiert sich durchs „goldene Zeitalter des Wanderns und Flanierens“, das sie zum Ende des 18. Jahrhunderts beginnen lässt und in den 1970ern im Auszug der Amerikaner in die Vororte enden sieht. Mit dem Eintritt in die Dienstleistungsgesellschaft braucht die Arbeitswelt den Körper kaum noch, auch das Gehen verschwindet.
So entsteht aus dem weiten Radius, den die ersten Kapitel schlagen, eine konzentriertere Untersuchung von Fortbewegung, Körperkultur, Technisierung, Stadtplanung, Geschlechterverhältnissen, Kunst und politischem Aufruhr und einigem mehr im angelsächsischen Kontext. Aus der Ode wird ein Requiem, zugleich Sterbeamt für eine freigeistige Sozialität: „Der Niedergang des Gehens hat mit dem Mangel an spaziergängerfreundlichem Raum zu tun, aber auch mit dem Mangel an Zeit – mit dem Verschwinden jenes müßigen, unstrukturierten Raums, der so viel an Denken, Flirten, Tagträumen und Schauen hervorbrachte. Maschinen sind schneller geworden, und das Leben hat sein Tempo daran angepasst.“
Info
Vom Glück des Wanderns. Eine philosophische Wegbegleitung Albert Kitzler Droemer/Knaur 2019, 272 S., 16,99 €
Nachtwandern. Eine Reise in die Natur Chris Yates Frank Sievers (Übers.), Insel 2019, 151 S., 16,95 €
Gehen. Weitergehen. Eine Anleitung Erling Kagge Ulrich Sonnenberg (Übers.), Insel 2019, 157 S., 16 €
Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens Rebecca Solnit, Daniel Fastner Matthes & Seitz 2019, 384 S., 30 €
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