Kino „Wir könnten genauso gut tot sein“ erzählt davon, was passiert, wenn sich eine Gesellschaft zum Überleben abschottet. Natalia Sinelnikovas Film ist nicht der erste, der zeigt: Es ist der Horror
Eine Familie durchstreift einen Wald. Ängstlich blicken sie um sich, die Eltern bewaffnet mit Axt und Hammer, das Kind eng in ihrer Mitte. Sie bahnen sich ihren Weg zu einem Hochhaus, umgeben von einem hohen Zaun. Hier wollen sie Schutz finden und ein neues Zuhause. So beginnt der Film Wir könnten genauso gut tot sein von Natalia Sinelnikova.
Hinter dem Zaun und hinter den Mauern des Hauses lebt eine kleine Gemeinschaft. Allesamt wurden sie von einem Komitee ausgewählt. Das Flehen der Neubewerber*innen hilft nichts: Nur wer freundlich, brav und nützlich genug ist für die Gemeinschaft, darf hier ein Zimmer beziehen. Das Haus erwartet Mäßigung, Konformität und Respekt der gemeinsamen Regeln, bietet aber auch Sicherheit vor der Welt da draußen. Wovo
draußen. Wovor genau die Gemeinschaft sich abgeschottet hat, erfahren die Zuschauer*innen nicht.Orgien bei StromausfallDie Heldin des Films, die alleinerziehende Anna (Ioana Iacob), ist im Haus für Ordnung und Routine zuständig. Sie inspiziert die Neuankömmlinge, macht Lautsprecherdurchsagen, sieht nach dem Rechten. Als der Hund eines Anwohners verschwindet, macht sich in der Gemeinschaft Argwohn breit. Unterstellungen werden gemacht, Menschen denunziert, Grundrechte eingeschränkt. Eine kleine Bürgerwehr fängt an, über das Gelände zu patrouillieren. Natalia Sinelnikova zeigt in ihrer scharfsinnigen Gesellschaftssatire, wie sich gerade in der Isolation feine Ressentiments in Paranoia und schließlich in Gewalt verwandeln.Das Motiv der abgeschotteten Gemeinschaft findet sich in Filmen immer wieder auf unterschiedliche Weise inszeniert, bringt aber stets ein ähnliches gesellschaftliches Unbehagen zum Ausdruck. Um ein Hochhaus geht es etwa auch im Film High-Rise (2015) des britischen Regisseurs Ben Wheatley. Dort ziehen sich die Bewohner eines noblen Wohnkomplexes immer weiter in den Mikrokosmos ihres Hauses zurück, in dem es vom Supermarkt bis zur Schwimmhalle alles gibt, was sie brauchen. Auch diese Gemeinschaft ist von Hierarchien und Feindseligkeit geprägt. Während im Haus orgiastische Partys gefeiert werden, fallen langsam Strom und Wasser aus, die Lebensmittel verfaulen und in den Gängen kämpft man ums nackte Überleben.Auch im Kultfilm Snowpiercer (2013) gilt die Devise: Wir könnten genauso gut tot sein. In Bong Joon Hos Film fährt ein einsamer Zug auf einem Schienennetz über einen eingefrorenen Planeten. Außerhalb des Zuges ist es zu kalt, um zu überleben, im Zug herrscht eine brutale Klassenordnung. Auch hier ist es die Drohung der Außenwelt, die die inneren Machtverhältnisse stützt. Während in Sinelnikovas Film Aufsässigkeit mit einer Nacht im Freien bestraft wird, müssen in der Snowpiercer-Gesellschaft Aufrührer*innen ihren Arm durch eine Öffnung in die Kälte draußen halten, bis er gefroren ist. Wer nicht das Los der Draußengebliebenen teilen möchte, muss die inneren Verhältnisse akzeptieren.In George A. Romeros Land of the Dead (2005) geht es um eine abgeschottete Stadt, die sich hinter Flüssen und Stromzäunen vor der Zombie-Invasion schützen will, die die Welt heimgesucht hat. Über der Stadt erhebt sich ein Hochhaus, in dem sich die Reichen vom Rest der Bevölkerung abgeschirmt haben. Überhaupt findet sich in zahllosen Zombiefilmen von Night of the Living Dead (1968) bis zur Serie The Walking Dead (2010 – 2022) eine räumliche Logik der Abschottung. Aus der Einschließung folgen alle Konflikte, alle moralischen Fragen, jede Facette der Angst. Welcher der Eingeschlossenen ist vertrauenswürdig? Wer wurde gebissen? Was ist mit den Überlebenden da draußen, die an die Tür klopfen? Es ist der Horror der Davongekommenen, der sich gerade am Ort der Sicherheit einstellt, hinter den dicken Wänden.Eingebetteter MedieninhaltSelten wurde dieser Horror so auf den Punkt gebracht wie in Darren Aronofskys Noah (2014). Im biblischen Stoff von der Arche macht der Film ein überaus realistisches Grauen sichtbar. Bei Anbruch der Sintflut versucht ein Heer von Verzweifelten, sich auf das rettende Schiff zu kämpfen – mit göttlicher Unterstützung und nackter Gewalt werden sie abgewehrt. Im Bauch der Arche hören Noah und seine Familie noch die Schreie der Ertrinkenden. „Für sie ist kein Platz“, richtet Noah.In diesem Film erkennt man, dass der Horror der Abschottung letztlich ein moralischer Horror ist. Ein Horror, der ein grundlegendes Moment unserer gesellschaftlichen Existenz trifft. Er liegt nicht so sehr in dem drohenden Hereinbrechen der Außenwelt, sondern im Bewusstsein, die Solidarität mit den Draußengebliebenen aufgekündigt zu haben.Zentrum gegen PeripherieNeben uns die Sintflut (2016) ist dann auch die Metapher, die der Soziologe Stephan Lessenich verwendet, um die moralische Zumutung unserer globalen Wirtschaftsordnung zu bezeichnen, die nur unter ständiger Verdrängung ihrer sozialen Kosten fortbestehen kann. Entweder man ist Zentrum oder man ist Peripherie in der Weltgesellschaft. Entweder man hat den guten Pass, bekommt Bildung, Grundsicherung und das Recht zu reisen bei der Geburt geschenkt. Oder man hat den schlechten Pass und ist bestimmt für die Textilfabriken, die Plantagen, die Bergwerke. Im Zentrum der Weltgesellschaft ist man als Außenstehender nicht geduldet und wird draußen gehalten mit Draht und Drohnen, Rauch und Gummi, Wüste und Meer. „Ihr könnt mich nicht im Ghetto halten, ohne selbst etwas Monströses zu werden“, sagt der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin im Essay-Film I Am Not Your Negro (2016) und nimmt dabei die Perspektive des Ausgeschlossenen ein, der unsichtbar ist für die Menschen im Zentrum.In Zeit der Kannibalen (2014) reisen drei Unternehmensberater*innen durch den Globalen Süden und optimieren lokale Firmen, verlassen dabei aber niemals ihre sicheren Luxushotels. In einem psychologischen Kammerspiel drehen sie sich nur narzisstisch um sich selbst, das Schicksal der anderen Menschen und der Bürgerkrieg in der Außenwelt dringen nur schemenhaft zu ihnen durch. Sie können nicht sehen, was draußen geschieht, und sie wollen es auch nicht. Letztlich bricht auch hier die heile Innenwelt zusammen und nackte Angst macht sich breit.Die Paranoia der isolierten Eliten ist real. Der amerikanische Silicon-Valley-Kenner Douglas Rushkoff berichtet in seinem gerade erschienenen Buch Survival of the Richest von den Fluchtfantasien der Tech-Milliardäre. Die Inspiration dafür gewann er in einem Beratungsgespräch mit fünf superreichen Investmentbankern, die ihn engagiert hatten. Die Männer wollten von ihm wissen, was der beste Standort für einen privaten Bunker wäre und wie man die Loyalität des eigenen Personals garantieren könne, wenn erst mal alle Währungen ihren Wert verloren hätten. „Trotz all ihres Reichtums und ihrer Macht“, schrieb Rushkoff, „glauben sie nicht, die Zukunft verändern zu können. Sie akzeptieren einfach das düsterste aller Szenarien und investieren dann so viel Geld und Technik wie möglich, um sich abzuschotten – insbesondere, wenn sie keinen Platz in einer Rakete zum Mars bekommen können.“Im schwedischen Science-Fiction-Film Aniara (2019) fliegt tatsächlich ein Raumschiff zum Mars. Es lässt eine ökologisch kollabierende Erde hinter sich. An Bord ist eine Gruppe von Privilegierten: Man musste „Menschen zurück auf der Erde ... sich im Asphalt auflösen“ lassen, damit auf dem Raumschiff jeder seine „eigene Toilette“ haben kann. Das Raumschiff ist komfortabel eingerichtet, es gibt Einkaufsläden, Schwimmhallen, Spielcasinos, Technoclubs. Aber es kommt zu einem Unfall, das Schiff gerät vom Kurs ab, ohne Chance auf Umkehr steuert es unaufhaltsam ins Nichts des Kosmos. Der Rest des schwer erträglichen Films erzählt vom Grauen der ultimativen Isolation im Weltall, von grenzenloser Verzweiflung. Als verzerrtes Echo von Wir könnten genauso gut tot sein sagt hier eine Passagierin: „Eigentlich sind wir schon tot und liegen im Sarg.“Ganz so hoffnungslos lässt Sinelnikova ihren Film nicht enden. Anna wird zwar letztlich als Stimme der Vernunft von der Hausgemeinschaft verstoßen und flieht mit ihrer Tochter ins Ungewisse. Aber sie gehen auch in die Freiheit. Denn in der Abschottung kann keine Gemeinschaft existieren und kein gutes Leben gelingen. Für all die drohenden Weltuntergangsszenarien unserer Zeit ist eines sicher: Es wird keine Rettung für einige Wenige geben.Placeholder infobox-1
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