„Er dichtete über Gott, über Maria“

Buchmesse Spezial Glühender Patriot, suchender Christ, feinfühliger Dichter: Wer war Hans Scholl? Der Theologe Robert M. Zoske hat Antworten
Ausgabe 11/2018

Vor 75 Jahren ermordete die NS-Justiz die Mitglieder der Weißen Rose. Das Hinrichtungsprotokoll vermerkt als letzte Worte Hans Scholls: „Es lebe die Freiheit!“ Der Theologe Robert M. Zoske hat eine umfassende Biografie Scholls geschrieben, die ein eindrückliches Bild seiner Entwicklung zeichnet. Sie hilft zu verstehen, wie der bisexuelle, fromme Christ zum Widerstandskämpfer wurde.

der Freitag: Herr Zoske, in Ihrem Buch zeigt sich Hans Scholl als tiefreligiöser Mensch, was bisher kaum bekannt war. Wie erklären Sie sich das?

Robert M. Zoske: Ich habe die Aufgabe darin gesehen, Hans Scholl so zu schildern, wie er sich mir in seinen Schriften zeigt. Ich habe keine Zeitzeugen befragt, weil ich das für relativ unsicher halte, zumindest mit dem sehr großen zeitlichen Abstand, den sie jetzt zu den Ereignissen haben. Deshalb habe ich geguckt: Was gibt es von Hans Scholl? Was hat er selber geschrieben? Und da offenbart sich ganz klar, dass er schon ganz früh ein religiöser Mensch war.

War das überraschend? Er kam immerhin aus einem religiösen Elternhaus, seine Mutter war Diakonisse.

Dass Hans Scholl religiös war, haben eigentlich alle, die über die Weiße Rose geschrieben haben, erwähnt. Doch vor meinen Arbeiten war die Ansicht der meisten Forscher: Mit der Begegnung mit den konservativen Reformkatholiken Carl Muth und Theodor Hecker sei er zum homo religiosus geworden. Das wäre dann im Laufe des Jahres 1941 gewesen. Ich durfte jedoch die Gedichte von Hans Scholl entdecken, die nicht veröffentlicht waren. Und da er dort explizit über Gott dichtete, über Jesus Christus, über Maria, den Heiligen Geist, und überall in der Natur wanderte und naturmystische Erlebnisse hatte, musste ich sagen: Bereits 1937/38 war er ein frommer Mensch.

Zu dieser Zeit landete er das erste Mal vor Gericht. Er hatte eine illegale Jungengruppe geleitet und zu einem der Jungs, Rolf Futterknecht, eine Liebesbeziehung. Weshalb er wegen „bündischer Umtriebe“, Homosexualität und des Missbrauchs Abhängiger angeklagt wurde. Warum war auch das lange kaum bekannt?

Hans’ Schwester Inge Aicher-Scholl hat alles über ihre Geschwister gesammelt, was sie kriegen konnte. Doch dann ist sie sehr selektiv vorgegangen, als sie 1952 ihr Buch Die Weiße Rose schrieb. Dort erwähnt sie nur: Er war wegen bündischer Umtriebe angeklagt. Sie wollte Hans und Sophie als Vorbilder darstellen. Dazu passte es nicht, dass ihr Bruder wegen Homosexualität und des Missbrauchs Abhängiger angeklagt worden war. Auch wenn das Verfahren eingestellt wurde, stellte das Gericht doch fest, dass diese Vorfälle stattgefunden hatten und dass sie strafbar waren. Scholl hatte großes Glück, er profitierte von einem Amnestiegesetz.

Vor diesem Prozess von 1937/38 war Hans Scholl ein Anhänger des Nationalsozialismus.

Sein Charakter war komplex und kompliziert, gerade in dieser Zeit. Er trat 1933 zunächst in den Christlichen Verein Junger Männer ein. Dann aber wuchs der Druck, keine Gruppen außerhalb der Hitlerjugend zu dulden, und Scholl hat sich da begeistert eingefügt. Aber je dichter und enger die ideologische Reglementierung wurde, umso mehr wurde sein Freiheitsgefühl beschnitten. Es wurde ihm gesagt: Das darfst du lesen, das nicht. Dorthin darfst du fahren, dahin nicht. Dass er mit seiner Jungengruppe 1936 nach Schweden fuhr, obwohl er nicht durfte, ist ganz klar eine Art zu sagen: Da kümmere ich mich nicht drum.

Zur Person

Robert M. Zoske, 65, ist Theologe und war bis 2017 Pastor. Vorläufer des Buches ist seine Dissertation Sehnsucht nach dem Lichte. Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl, 2014 im Herbert Utz Verlag erschienen. Er hält Radioandachten im NDR und lebt in Hamburg.

Foto: Frederika Hoffmann

Eigentlich ist aufgrund dieser Anklage nicht viel passiert, er war lediglich zwei Wochen in Untersuchungshaft. Trotzdem hat es ihn in eine schwere Krise gestürzt. Warum?

Weil Homosexualität damals etwas ganz anderes bedeutete als heute. Er wurde ja bloßgestellt, so hat er das empfunden. Er hatte kurz vorher von seiner Mutter gehört, dass sie Homosexualität als „Geißel“ empfand. Und er wusste, dass er eventuell ins Gefängnis muss, er wusste, dass er nicht mehr Offizier sein kann, was sein Wunsch war. Und ich glaube, er war sich selber auch nicht so sicher, in welche Richtung seine Sexualität ging. Dass er Rolf Futterknecht geliebt hat, sagt er allerdings dreimal.

Also war es mehr als homoerotische Erfahrungen, die viele junge Männer machen?

Auf alle Fälle war es ein Teil seiner Sexualität. Mit seinem Kommilitonen Hellmut Hartert hat er 1940 monatelang auf engstem Raum zusammengelebt und Alexander Schmorell bezeichnete er später als „eigentlich meinen einzigen Freund“. In ihrer Zusammenarbeit bei den Flugblättern steckte auch eine libidinöse Todesbereitschaft. Ob da Sex im Spiel war, ist eine andere Frage, aber als Liebe würde ich das definitiv bezeichnen. Aber er hatte auch Beziehungen zu Frauen, erst zu ganz jungen, dann später auch zu in etwa gleichaltrigen. Wenn ich sein ganzes Leben betrachte, würde ich ihn als bisexuell bezeichnen.

Auch sein Verhältnis zur Religion war alles andere als simpel. Er wurde evangelisch erzogen, ließ sich von diesem Gedankengebäude jedoch nicht einsperren. Was suchte er in der Religion?

Als er merkte, die Idee des NS ist nicht das, was mein Leben eigentlich prägt, brauchte er etwas anderes. Er hatte von seiner Mutter das Pietistische mitbekommen und das schien ihm glaubhaft und glaubwürdig. Aber er war nicht so eingeengt. Von dem russisch-orthodoxen Freund Alexander Schmorell hat er in Russland viel gelernt. Er hat sein längstes Gedicht über Maria geschrieben, natürlich auch, weil Maria die „Reine“ ist. Das war eine Sublimierung, eine Reinwaschung von der „Schande“ der Homosexualität. Man kann sagen: Katholisch war er in seinem Mariengedicht; mit seinem Freund öffnete er sich der orthodoxen Religiosität; er war Protestant, wenn er davon sprach, dass er alleine vor Gott und Kreuz steht; und er war durchaus pantheistisch oder panentheistisch, wenn er durch die Natur streifte und überall göttliche Kräfte sah. Also man kann sagen: Er lebte die Ökumene.

Zum politischen Weltbild des jungen Scholl gehörte neben dem Elitedenken und dem Patriotismus auch die Kriegsfaszination. Diese änderte sich mit seinem ersten Einsatz. Was erlebte er da?

Inspiriert vom Heroismus der Heldenfibel von Eberhard Koebel und von den Gedichten Stefan Georges, war für ihn Krieg etwas Reinigendes, etwas Großes. So wie ein Goldklumpen von der Schlacke gereinigt wird, so könne das auch in einem Krieg passieren, meinte er. So dachte er noch im September 1939. Da hatte er aber noch nicht das erlebt, was ihn an der Westfront im Lazarett erwartete. Da merkte er schließlich: Das ist so irrwitzig, die Leute werden verletzt, wir heilen sie und sie werden wieder der Gefahr ausgesetzt. Dort wandelte sich seine Einstellung zum Krieg.

Das elitäre Denken, dass er sich immer nach Großem sehnt und sich auch selbst als jemanden sieht, der zu Großem für die Menschheit bestimmt ist – das hat etwas sehr nietzscheanisches.

Ja, sicher. Auch die Ablehnung der Masse, die er von seinem Vater hatte. Auch in seinem Ausdruck „Flamme sein“ zeigt sich die Parallele. Nietzsche schrieb: „Flamme bin ich sicherlich.“ Und er hat ihn intensiv studiert, 1939, als er eigentlich Medizin studieren sollte. Da hat er sich mindestens in eine Nietzsche-Vorlesung hineinbegeben und auch gelesen, das hat ihn ganz klar beeinflusst. Elite sein!

Sein Denken erinnert auch an den von Armin Mohler erfundenen Begriff der „Konservativen Revolution“. War Hans Scholl ein Konservativer Revolutionär?

In den Briefen, die 1937 konfisziert wurden, die er an die Jungs geschrieben hat, da kommt das ganz stark heraus: Revolution! Sie wollten Revolutionäre, sein aber mit Kommunisten hatten sie nichts zu tun, sondern sie wollten wirklich eine Konservative Revolution machen, lostreten. Das stimmt schon.

War Scholl Demokrat?

Von welchem Scholl reden wir? Von dem von 1936? Oder von 1943? Wenn man sich auf das Fünfte Flugblatt stützt, und das tun die meisten, dann war Hans jemand, der ein demokratisches, föderalistisches, gerechtes Deutschland, ein neues Europa wünschte. Freiheit der Rede, Freiheit der Religion, Freiheit zu reisen. Guckt man auf den Hans Scholl von 1936 bis 1939/40, war er richtig nationalkonservativ, träumte von einer starken Führerpersönlichkeit.

Blieb er dabei immer Stefan George treu, der ihn so früh prägte?

Man kann nicht sagen, dass er sich abgewandt hat. Dafür gibt es keinen Beleg. Es schwankte manchmal, wer sein Dichter-Vorbild war: George, Rainer Maria Rilke oder Paul Verlaine. Von seiner Schwester gibt es Äußerungen, dass er George nicht mehr gemocht habe, aber das kann man nicht verifizieren. Ich bin da Inge Aicher-Scholl gegenüber sehr skeptisch, weil sie wirklich viel zurechtgebogen hat.

In den Flugblättern zeigt sich ein starker Einfluss der Ansprachen, die Thomas Mann ab 1940 in der BBC hielt. War das ein Vorbild oder eher eine unbewusste Beeinflussung durchs Radio?

Scholl schrieb 1938, dass er die Buddenbrooks liest, und sagte: Ich bin ganz begeistert davon. Und da gibt es etwas, was er abgetippt hat, nämlich über die Bedeutung des christlichen Glaubens, wie Thomas Mann sie sieht. Da er das abschrieb, wird er es als so wichtig erachtet haben, dass er es bei sich haben wollte. Außerdem haben die ja alle die Feindsender gehört, wurden teilweise deshalb auch verurteilt, der Vater Robert zum Beispiel. Von daher haben sie garantiert diese Ansprachen gehört.

Wie war das Verhältnis zwischen Hans und Sophie?

Es gibt ein abstraktes Gemälde von Ernst Wilhelm Nay, „Akkord in Rot und Blau“, das beschreibt es ziemlich gut. Das Expressive ist das Rote. Das ist Hans, der Charismatiker. Der handelt vielleicht manchmal zu schnell, aber der macht etwas, auf jeden Fall. Und Sophie ist mehr dieses impressive Ultramarinblau, die überlegt, zögerlicher ist, aber durchaus tiefsinnig. Die beiden Töne ergeben zusammen einen wohlklingenden Akkord, sodass das Ganze ein wunderschönes Bild ergibt, mit einem leuchtenden Gelb in der Mitte, das für mich das Geistige symbolisiert, denn beide waren sehr spirituell. Insgesamt ergänzten sie sich so. Jedenfalls waren sie keine geistigen Zwillinge, wie sie immer geschildert werden.

Was hatte Sophie Scholl, was so zur Ikonenbildung taugte, was Hans nicht hatte?

In den 60/70er Jahren suchten Frauen in der Emanzipationsbewegung berechtigterweise Vorbilder. Sowieso suchten Leute Gegenbilder zu den Nazi-Eltern, den Kollaborateuren und denen, die einfach nichts gemacht hatten. Dann waren da eben diese jungen Studenten. Und es ist ja auch toll, als junge Frau, in einer Zeit, in der Frauen wenig galten, so aufzustehen.

Alle Aktionen der Weißen Rose waren dilettantisch und ohne große Vorsichtsmaßnahmen. Als sie verhaftet wurden, nahmen sie ihr Schicksal in Kauf. Was ging in ihnen vor?

Ihr Widerstand – oder besser: Freiheitskampf – war getragen von dieser Impulsivität, diesem Aktionismus, den Hans Scholl entwickelt hat. Wenn er sich denn als Werkzeug Gottes gesehen hat, und vermutlich hat er das, dann vielleicht auch mit so einer Art Fatalismus: Wenn es passiert, dann passiert es halt.

Wofür kämpfte – und starb – Hans Scholl: für sich, für Gott oder für sein Vaterland?

Wahrscheinlich in der Reihenfolge. Für sich, weil er sagte: Ich muss das machen. Für Gott, weil er hoffte, dass er auf seiner Seite ist. Und er musste es dann tun, damit ein besseres Deutschland und ein neues Europa entsteht.

Info

Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie Robert M. Zoske C. H. Beck 2018, 368 S., 26,95 €

Die Bilder des Spezials

Noroc heißt Glück und Gesundheit und ist ein rumänischer Ausdruck, den man verwendet, wenn man jemandem zuprostet oder sich verabschiedet. „Noroc!“, viel mehr Kommunikation fand manchmal nicht statt zwischen dem 1984 in Brüssel geborenen Fotografen Cedric Van Turtelboom und seinen Protagonisten. Noroc ist der Titel seiner Fotoserie aus Rumänien. Das Motto: sich immer bei einem Einheimischen einzuquartieren. Van Turtelboom nähert sich mit absurdem Humor einem bizarren Land und lässt uns irgendwo zwischen Dokumentation und Wintermärchen zurück, besser gesagt: mitreisen.

Der Bildband ist in limitierter Auflage erschienen und kann über cedricvanturtelboom.com bezogen werden. Noroc, 86 Seiten, 170 x 224 mm, 30 €

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