Lebenswege verlaufen selten geradlinig. Das Denken nimmt gerne Umwege, aber die Pfade der französischen Intellektuellenfamilie Glucksmann sind ganz besonders verschlungen. Man könnte auch sagen, hier zeigt sich innerhalb einer Familie die Komplexität der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche im Frankreich des letzten Jahrhunderts. Die Berührungspunkte zwischen Intellektuellen und Politik, mehr noch, der Wunsch, Politik mitzugestalten, hat in Frankreich nicht erst seit Victor Hugo Tradition. Viel stärker als in Deutschland ergreifen Autoren, Regisseure und Geisteswissenschaftler Partei oder gründen – wie im Fall von Raphaël Glucksmann – gleich selbst eine.
Denn noch bevor Didier Eribon oder Edouard Louis die Gelbwesten für sich entdeckt haben, mit denen sie sich solidarisierten, hatte Glucksmann mit einer Handvoll Mitstreiter eine neue Partei mit dem Namen Place publique gegründet. Nicht weniger als die Neuerfindung der Linken und die Versöhnung der vielen zersplitterten Bewegungen jenseits von Jean-Luc Mélenchons „Unbeugsamem Frankreich“ (La France insoumise) hat er sich vorgenommen. Dafür hat er sowohl den Grünen als auch dem letzten glücklosen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon, der mit seiner eigenen Bewegung génération.s. bei den Europawahlen antrifft, die Zusammenarbeit angeboten. Deren Begeisterung war jedoch gering.
Römer, Griechen
Kurze Zeit später lieferte er – auch eine bekannte französische Tradition – gleich die theoretische Grundlage seines politischen Projekts in Form des Buches Les enfants du vide hinterher, das nun auf Deutsch unter dem Titel Die Politik sind wir! – Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag erschienen ist. Darin schlägt Glucksmann einen weiten Bogen – von persönlichen Begegnungen, durch die er etwas über Frankreich erfahren haben will, bis hin zu den alten Texten der Römer und Griechen über die Demokratie und das Gemeinwesen. Seine Feststellung: Die so drastisch voranschreitende Individualisierung und der Verlust jeglichen Gemeinsinns hätten die Gesellschaften ins Verderben geführt. Wo früher Gewerkschaften, Vereine und andere Gruppierungen die Menschen zusammengebracht hätten, herrsche heute nur noch Vereinzelung, Leere.
In seinem eigenen Leben zumindest dürfte das Gefühl von Leere kaum entstanden sein, denn Glucksmann ist in Frankreich immerhin so was wie ein Promi, was nicht nur am Vater André liegt, der jahrzehntelang zu den bekanntesten Intellektuellen Frankreichs zählte und vor allem durch den erstaunlichen Wandel seiner politischen Haltung polarisierte: vom Maoisten bis zum Pro-Atlantiker und Sarkozy-Sympathisanten. 2007 trat der Sohn mit Abschluss der Politik-Kaderschmiede Sciences Po das erste Mal auf die politische Bühne, mit Sympathien für die kleine, wirtschaftsfreundliche Partei Alternative libérale, und verteidigte die politische Linie von Nicolas Sarkozy. Der Weg zum Hoffnungsträger der Linken innerhalb von zehn Jahren scheint da relativ kurz.
Über mangelnde Medienpräsenz kann er sich nicht beklagen, denn der 39-Jährige wird sogar von der People-Presse gemocht: als Lebensgefährte von Léa Salamé, ihres Zeichens prominente Fernseh- und Radiojournalistin, ein Gesicht, das so circa jedem Franzosen was sagt. Zuletzt wurde über ihre Ankündigung diskutiert, sich wegen der eigenen journalistischen Unabhängigkeit für die Zeit des Wahlkampfs ihres Freundes aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Nun also das Buch des Politik-Novizen, in Frankreich bereits im Herbst erschienen. Er, der zwar inhaltlich Position bezog, aber noch keinen Posten bezogen hat. Und nun muss er gleich lernen, wie schnelllebig mitunter Politik ist: In der kurzen Lebenszeit von Place publique sind viele Mitstreiter der ersten Stunde abhandengekommen, die den Zusammenschluss mit den Resten der Parti Socialiste (PS) für die Europawahlen als Verrat empfanden. Glucksmann sagt eingangs über Präsident Macron: „Ein Vertreter meiner Generation lehnt sich gegen die alten Parteien, Logiken und Vorstellungen auf, singt das Hohelied des Wohlwollens, verteidigt die offene Gesellschaft, erliegt nicht der Versuchung, Sündenböcke zu finden, und beglückwünscht Angela Merkel zur Aufnahme der Flüchtlinge, entwirft einen ,girondistischen Pakt‘ für Frankreich, verspricht das Ende des Hausarrests, will das schlafende Europa aufwecken, kennt die Klassiker und spricht doch die Sprache unserer Zeit.“ Aber im Gegensatz zu Macron (und auch Merkel) sagt Glucksmann, muss es nicht weniger, sondern wieder mehr Staat geben, muss der Bürger nicht nur seine Rechte wahrnehmen, sondern ebenso Pflichten.
Krasse Idee: Ökologie
In der Konsequenz plädiert er für einen verpflichtenden Zivildienst, einen neuen Gesellschaftsvertrag, eine direkte Demokratie, die Bürger dazu zwingt, sich mit komplexen Fragen tatsächlich auseinanderzusetzen. Schlüsselelement – wen mag es überraschen – ist zudem die Ökologie, an der alles Handeln ausgerichtet werden soll. Nicht, dass das Buch keine wichtigen gesellschaftlichen Prozesse verständlich nachzeichnet, nein, an vielen Stellen lässt sich problemlos nicken. Wenn es allerdings um eine glaubhafte, umsetzbare politische Vision geht, neue Antworten auf nicht besonders neu klingende Fragen, dann bleibt Glucksmann hinter dem Versprechen des Buchtitels zurück. Dann bleibt der Appell Die Politik sind wir erwartbar und zu zeitgeistig, nichts, was wirklich wehtut oder der Leser an anderer Stelle nicht schon mal gehört oder gar gedacht hat. Der Kandidat Glucksmann wird für die Wiedergeburt der französischen Linken mehr Verve brauchen als der Autor Glucksmann.
Info
Die Politik sind wir – Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag Raphaël Glucksmann Stephanie Singh (Übers.), Hanser 2019, 192 S., 18 €
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